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Dossier: Hände weg von China! // Die VR China und die Einflußversuche des dt. Imperialismus
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Tibet

Das Hochland von Tibet umfasst einen großen Teil des Himalaya-Gebirges und liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 4.500 Metern – dies brachte ihm die Bezeichnung „Dach der Welt“ ein. Seine größte Zeit erlebte Tibet zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert unserer Zeitrechnung; die damalige tibetische Yarlung-Monarchie hatte durch kriegerische Feldzüge viel Gebiet unterworfen und in Innerasien zeitweise als Großmacht die Kontrolle ausgeübt. Die Eroberung durch die Mongolen im 13. Jahrhundert beendete die Eigenständigkeit Tibets jedoch, für immer: Von nun an war Tibet unter mongolischer Schirmherrschaft, und mit der Etablierung der mongolisch-chinesischen Yuan-Dynastie (die durch die Feldzüge der Mongolen zustande kam) wurde das Gebiet unter Kublai Khan in das damalige chinesisch-mongolische Kaiserreich integriert18.
Seitdem sind die Bande zu China, in unterschiedlichem Grade, eng: Tibet ist seit der Einigung der mongolischen Gebiete und Eroberungen mit dem chinesischen Kernland, spätestens jedoch seit der Zuschlagung zum feudalen Protektorat des Mandschu-Reiches (der Qing-Dynastie) im Jahre 1720 und der Errichtung eines Vasallenstaates des Mandschu-Kaiserhauses 179319 eindeutig Teil des chinesischen Reiches.
[file-periodicals#54]Die innere Struktur Tibets wurde weder durch die mongolischen, noch – nach Ende der Yuan-Dynastie – durch die chinesischen (Ming-Dynastie) oder Mandschu (Qing-Dynastie)-Herrscher angerührt; was innerhalb Tibets geschah, war weitestgehend sich selbst überlassen. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Gelugpa-Sekte, die – nach ihrer traditionellen Mönchskleidung benannte – sogenannte „Gelbmützen“-Sekte, in mehreren blutigen Religionskriegen mit tatkräftiger Unterstützung durch die Mongolen gegen die älteren Vertreter anderer buddhistischer Schulen in Tibet durchsetzen können20, ohne freilich jemals komplett die religiöse Deutungshoheit übernommen zu haben (so existieren auch heute noch konkurrierende, den Dalai Lama nicht anerkennende Gruppen, wie z. B. die „Rotmützen“, in Tibet). Einer der höchsten Würdenträger dieser buddhistischen Sekte, der so genannte Dalai Lama, der jeweils als Reinkarnation seines verstorbenen Vorgängers ausfindig gemacht und inthronisiert wird, nimmt seit dem 17. Jahrhundert die Regierungsbelange innerhalb Tibets wahr.

Der „große“ 5. Dalai Lama (1617 – 1682) war der erste Herrscher in dieser Reihe, die bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts andauern sollte. Keineswegs origineller, wohl aber deutlich tatkräftiger als die religiösen Konkurrenten machte sich die Gelugpa-Sekte an die Unterwerfung des Gebiets und seiner Bewohner: im ganzen Land wurden befestigte und bewaffnete Klöster gegründet, diese wiederum „befriedeten“ das Umland: viele Tibeter oder andere dort lebende Minderheiten hingen dem ursprünglichen „Bön“-Glauben an, einer polytheistischen, atavistischen Urreligion. Auch die fanatischen Gelugpa brachten nie mehr als eine Synthese aus importiertem Buddhismus mit Versatzstücken der Bön-Religion, verschiedener Volksaberglauben und Schutzgötterverehrung zustande1. Wohl aber gelang ihnen die absolute weltliche Herrschaft über Tibet: sie etablierten ein feudal-theokratisches System, das weder an Engstirnigkeit, noch an Grausamkeit oder Armut der Bevölkerung allzu oft überboten werden sollte.

Hatten die tibetischen feudalen Eliten schon unter der chinesischen Herrschaft während der verschiedenen Dynastien des alten Kaiserreiches weitestgehend freie Hand, so konnten sie unter dem Eindruck der Wirren, in die das chinesische Reich nach den beiden Opiumkriegen2 geriet und der damit einhergehenden Schwächung der kaiserlichen Zentralregierung vollends nach der Macht greifen und schlussendlich nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution eine Art rechtsfreien Raum herstellen. Die territoriale Zugehörigkeit Tibets zu China wurde dann auch im 19. Jahrhundert ernsthaft in Frage gestellt: die Briten griffen nach der Provinz und bereiteten von Indien aus deren Übernahme vor. Im Jahre 1894 gelang es dem 13. Dalai Lama mit Schützenhilfe der britischen Imperialisten, den chinesischen Statthalter aus Lhasa zu vertreiben. Die chinesische Zentralregierung konnte wenig dagegen ausrichten, denn im chinesischen Kernland operierten längst britische Truppen, die die separatistischen Tendenzen der tibetischen Feudal-Theokratie reichlich unterstützten. 1911 stürzte die bürgerlich-demokratische Revolution unter Dr. Sun Yatsen die letzte (Qing-) Dynastie in China, und in den darauf folgenden Revolutions- und Bürgerkriegswirren ergriff der 13. Dalai Lama die Initiative: 1913 erklärte er Tibet – gegen den Widerstand der Republik China – für unabhängig3.

Sehr weit her war es mit dieser Unabhängigkeit jedoch nicht: weder China, noch irgendein anderes Land der Welt erkannte den neuen Staat an; auch fehlt die chinesischen Unterschrift auf dem „Unabhängigkeitsdokument“4. Für die Chinesen war diese Episode bloß eine weitere nationale Demütigung; verübt durch die verschiedenen in China operierenden imperialistischen Mächte. Massive Auswirkungen hatte die neue Politik des 13. Dalai Lama jedoch für die tibetische Innenpolitik: nachdem bereits in den vorangegangenen Jahrhunderten wenig Einmischung durch die chinesische Zentralregierung in das tibetische Geschehen stattfand, hatte die herrschende buddhistische Dynastie nun völlig freie Hand.5

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Rinpoche krault dem Leiter der SS-Expedition, Untersturmführer Ernst Schäfer die Haare: eine besondere Gunstbezeugung im alten Tibet.
In Tibet herrschte zu dieser Zeit tiefstes Mittelalter: 95 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten; regelmäßige Kindesentführungen frischten den Bedarf an Mönchen auf. Der breiten Bevölkerung waren nahezu alle Fortschritte der kapitalistischen Epoche unbekannt; angefangen von völlig fehlender westlicher Medizin, die eigentlich harmlose Krankheiten zur tödlichen Bedrohung machten, über bitterste Armut und Mangel am Notwendigsten bis hin zu unerträglichen hygienischen Zuständen glich Tibet einem Reich, das irgendwo im grauer Vorzeit stehen geblieben war. Um dies zu belegen, braucht man nicht auf chinesische Quellen zurückzugreifen – die wenigen westlichen Reisenden, die in den vor der Befreiung 1950 liegenden hundert Jahren nach Tibet gelangten, zeichnen ein in der Regel vernichtendes Bild – von christlichen Missionaren, Forschungsreisenden und britischen Offizieren, bis hin zu den eigentlich höchst begeisterten deutschen Nazis wird das Leben der einfachen Bevölkerung im alten Tibet als das pure Grauen gezeichnet: unerträgliche soziale Verhältnisse, diktatorisch regierende Kriegermönche, die Menschen niederdrückende Leibeigenschafts- und Ablassgabenregelungen, feudale Familien- und Machtstrukturen, krasse Frauenunterdrückung und ein an Grausamkeit kaum zu überbietendes Strafrecht, das für allerkleinste Vergehen drakonische Strafen vorsah: „Zu den bis weit in das 20. Jahrhundert hinein üblichen Strafmaßnahmen zählten öffentliche Auspeitschung, das Abschneiden von Gliedmaßen, Herausreißen von Zungen, Ausstechen von Augen, das Abziehen der Haut bei lebendigem Leibe und dergleichen. [...] Wie Dokumente der amerikanischen Illustrierten „Life“ belegen, fanden noch bis zum Einmarsch der Chinesen körperliche Verstümmelungen statt: einer Gruppe an Gefangenen sollten öffentlich Nasen und Ohren abgeschnitten werden; auf den Protest der amerikanischen Journalisten hin wurde die Strafe in je 250 Peitschenhiebe umgewandelt.“6

Im krassen Gegensatz zur unbeschreiblichen Armut der einfachen Bevölkerung lebt die prassende Elite des Landes, der buddhistische Klerus und die theokratischen und aristokratischen Feudalherrscher aus Lhasa. Im „Potala“, dem damaligen Sitz des Dalai Lama, wurde ein ungeheurer Goldschatz, über Jahrhunderte der Bevölkerung abgetrotzt, verwahrt; der Palast selbst und viele Klöster starren vor Goldornamenten und Goldstatuen. Die regelmäßige Eintreibung der drückenden Steuerlasten, von denen das Leben am Hofe des „Gottkönigs“ bestritten wurde, stellte in rigides System von Mönchsbeamtenschaften mittels einer ganz und gar nicht friedfertigen, bewaffneten Mönchspolizei sicher: „Tibet war überzogen von einem engmaschigen Netz an Klöstern und monastischen Zwingburgen, von denen aus das Land und die Menschen beherrscht und gnadenlos ausgebeutet wurden. Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Polizei und Militär lagen ebenso in den Händen von Mönchsbeamten wie Bildungs- und Gesundheitswesen, Grundbesitz sowie jedwede sonstige Verwaltung. [...] Die überwiegende Mehrzahl der Menschen des alten Tibet lebte unter indiskutablen Bedingungen, ihre Behausungen und ihre Ernährung war katastrophal, Bildung oder Gesundheitsversorgung existierten nicht.“7

Jegliche Kritik am „alten Tibet“ wird von exiltibetischen Gruppen und ihren westlichen Proliferanten als „chinesische Propaganda“ weggewischt. Der Autor Colin Goldner kommt zu dem Fazit: „Für die große Masse der Bevölkerung war das 'alte Tibet' tatsächlich die 'Hölle auf Erden', von der in der chinesischen Propaganda immer die Rede ist, und aus der das tibetische Volk zu befreien als Legitimation und revolutionäre Verpflichtung angesehen wurde für den Einmarsch 1950.“
„Die exiltibetische Gemeinde [also die sog. „Exilregierung“ des Dalai Lama in Indien, Anm. d. Verf.] hat sich bis heute gegen jede kritische Beleuchtung der Geschichte des „alten Tibet“ mit aggressiver Vehemenz verwahrt.“8

Die „Nazi-Tibet-Connection“
und der Ursprung der Tibethysterie in Deutschland


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Der UFA-Film „Geheimnis Tibet“ entstand aus Drehmaterial der SS-Expedition und kam 1942, während des II. Weltkrieges, in die deutschen Kinos: der Beginn und Höhepunkt einer ganzen Flut von Publikationen und Veröffentlichungen zum fernen Tibet, mit deren Hilfe die deutschen Faschisten der Bevölkerung neue Kriegsbegeisterung einhauchen wollten.
Wenn sich heute manch einer wundert über die oftmals weltfremd wirkende Begeisterung vieler Deutscher für Tibet und sich die dazu passende Frage stellt, wann und warum dieser Trend um sich griff und ausgerechnet Tibet, nicht aber – beispielsweise – die Inka, das alte Guatemala oder die Voodoo-Religion in Lateinamerika zum Ziel der Sehnsüchte, Interpretationen und Träumereien von einem fernen, unberührten, nicht von „Zivilisation“ und „Technik“ verseuchten Märchenland machte, so wird auch die Antwort verwundern: der Tibet-Hype in Deutschland begann – 1942. Damals wurde ein Film namens „Geheimnis Tibet“ zum Kassenschlager der UFA-Filmpaläste, der erstmals das deutsche Publikum mit der Existenz des abgelegenen Landstrichs bekannt machte und bereits viel von den später mit dem „Tibet-Mythos“ in Verbindung gebrachten Elementen enthielt: Tibet, ein gänzlich abgeschottetes, schwer bis gar nicht zu erreichendes fernes Wunderland, regiert von religiösen Führern nach uralten Weisheiten, unerschüttert von all den modernen – je nach Lesart – Segnungen oder Flüchen. Zum Film passend überschwemmt eine wahre Flut von Publikationen die deutsche Öffentlichkeit: „Geheimnisvolles Tibet“, „Wikinger der Wissenschaft“, „Wir reiten in die verbotene Stadt des Dalai Lama“, „Im Schatten der Götterburg“, „mit der Kamera im verbotenen Land“, „Laaloo – die Götter wollen es“, „ein Hannoveraner in Tibet, dem dunklen Herzen Asiens“, „das entschleierte Tibet“, „der Gottkönig empfängt uns“, und dergleichen mehr: in über 400 zentral durch Goebbels’ „Reichsschrifttumskammer“ ferngesteuerten Medien wurde die Tibethysterie angeschürt.9

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die SS-Expedition im Bild mit Angehörigen des tibetischen Adels, obere Reihe von links: Wienert, Schäfer, Beger, Geer, Krause.
Das obsessive Interesse der deutschen Faschisten an Tibet hatte neben abstrusen Rasseideen10 auch einen ganz profanen Hintergrund: den zweiten Weltkrieg. Um die Lage an der Heimatfront ruhig zu halten und der Bevölkerung neue Kriegsbegeisterung einzuhauchen, wurden verschiedenste Register gezogen; eine breite Publikationswelle über nacheifernswerte ostasiatische Kriegerreligionen, die Samurai oder eben die durchaus nicht gewaltlose tibetische Kultur sollten Ablenkung schaffen und zu neuer Aufopferung inspirieren. Der Film entstand aus dem mitgebrachten Filmmaterial einer deutschen Expedition, die unter dem Leiter, SS-Untersturmführer Ernst Schäfer, unter der „Schirmherrschaft der SS“ 1938/39 auf das „Dach der Welt“ gereist war. Entstanden waren die Pläne zur Expedition im „SS-Ahnenerbe“, der pseudowissenschaftlichen Denkfabrik Heinrich Himmlers. Dementsprechend wurde die Expedition nicht nur mit den nötigen Experten für Geologie, Schürfforschung und Metallurgie ausgestattet, die nach für „Großdeutschland“ ausbeutbarem Material suchen sollten, sondern obendrein auch mit Schädelvermessern und „Rassekundlern“ bestückt. Der Expeditionsteilnehmer Bruno Beger zum Beispiel, der sich in Nazideutschland als „Experte für Schädelkunde“ einen Namen gemacht hatte und für die Expedition folgendes Programm entwarf: „Suche nach fossilen Menschenresten. Suche nach Skelettresten früherer nordischer Einwohner. Erforschung der nordischen Rasse unter der Bevölkerung.“ Fündig wurde Beger dann unter der herrschenden Mönchskaste und im tibetischen Adel: „Hoher Wuchs, gepaart mit langem Kopf; schmales Gesicht, zurücktreten der Backenknochen, [...] herrisch selbstbewusstes Auftreten“.11

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Bruno Beger: 1938 in Tibet, bei der Schädelvermessung an einheimischer Bevölkerung.
Die Suche nach Bodenschätzen, der Wunsch nach Filmmaterial für die Erbauung der kommenden „Heimatfront“ und die Rasseideen Heinrich Himmlers, der im Himalaja auf den Fund gemeinsamer Urahnen der „Arier“ hoffte, waren nur die oberflächlichen Gründe für die teure und nicht ungefährliche Expedition in ein Gebiet der Welt, das damals zu den unzugänglichsten des gesamten Planeten gehörte. Tatsächlich waren es in erster Linie geostrategische Planungen, die diese Reise – immerhin durch die Linien der Briten und deren Kronkolonie Indien – ermöglichten: Tibet nahm in den Planungen für ein imperialistisches Roll-Back durch Deutschland eine strategische Position ein. Einmal gegen die Briten, die in Indien saßen und nicht nur durch von den deutschen Faschisten aufgewiegelte indische „antiimperialistische Freiheitskämpfer“12, sondern auch von der Grenze zu Tibet unter Feuer genommen werden sollten; andererseits auch für einen kommenden Zusammenschluss mit der verbündeten faschistischen „Achsenmacht“ Japan in China, die zum Zeitpunkt der Expedition bereits tief im chinesischen Kernland militärisch operierte. Um diese geographische Schlüsselposition zu besetzen, waren zunächst einmal Beziehungen zur tibetischen Herrscherkaste nötig – Tibet unterhielt selbstverständlich keinerlei Botschaften, hatte weder Diplomaten noch Gesandte im Ausland oder verfügte weder über Telefon-, noch wenigstens über Postanbindung an den Rest der Welt. Die SS-Männer waren also in vielfacher Mission unterwegs: neben Bodenschürfungen, Schädelvermessungen und Filmaufnahmen waren sie das diplomatische Corps des deutschen Faschismus auf dem Hochplateau im Himalaja.

Die SS-Männer, in Tibet angelangt, sind fasziniert vom Land „unter dem östlichen Hakenkreuz“. Einiges kennen sie aus eigener Anschauung, aus Deutschland, dem Land unter dem „westlichen Hakenkreuz“: Ernst Schäfer, der an den Menschenexperimenten des KZ-Arztes Rascher in Dachau teilnahm, und Bruno Beger, der später wegen Mordes an 86 sowjetischen Kriegsgefangenen vor Gericht gestellt wird13, deren Skelette er einer „anthropologischen Sammlung“ von „Judenschädeln“ einverleibt hatte und dafür extra eine „Entfleischungsmaschine“ orderte, fühlen sich im nekrophilen, makabren und düsteren tibetischen Ritualglauben wie zu Hause. Befriedigt konnte Schäfer dann auch feststellen: „Zwecks Beschwichtigung der tantrischen Gottheiten sind anstelle milder Gaben von Blumen und Früchten auch heute noch Blutopfer gebräuchlich.“14
[2-4.jpg]Die SS-Expedition war jedenfalls ein Erfolg auf ganzer Linie: das Treffen mit dem damaligen Regenten Renting Rinpoche, der die Deutschen auf einem mit Hakenkreuzen geschmückten Thron sitzend empfing, löste nicht nur bei Schäfer mythische Gefühle und übersinnliche Erfahrungen aus, sondern brachte auch handfeste Ergebnisse: zwei versiegelte Schreiben, je an Adolf Hitler und Heinrich Himmler: „Dem trefflichen Herrn Hitler (König) der Deutschen, der erlangt hat die Macht über die weite Erde![...] Gegenwärtig bemühen Sie sich um das Werden eines dauerhaften Reiches in friedlicher Ruhe und Wohlstand, auf rassischer Grundlage. Deshalb erstrebt jetzt der Leiter der deutschen Tibetexpedition, der Sahib Schäfer (She-par), zumal keine Schwierigkeiten im Wege stehen, bis zu einem unmittelbaren Verkehr mit Tibet nicht nur das Ziel der Festigung des (persönlichen) freundschaftlichen Verkehrs auf (unsere beiderseitigen) Regierungen. Nehmen Sie nun, Eure Exzellenz, Führer (wörtlich König) Herr Hitler, zu diesem Verlangen nach gegenseitiger Freundschaft, wie sie von Ihrer Seite ausgesprochen wurde, unsere Zustimmung.“15

Nach diesem erfreulichen Ausgang der Expedition machte sich das SS-Hauptquartier an die Umsetzung einer zweiten, größeren und weniger friedlichen Mission: die nächsten Deutschen, die im Himalaja kulturelle Gemeinsamkeiten bejubeln würden, sollten Soldaten sein. Ihr Ziel: von Tibet, der uneinnehmbaren Bergfeste, in die britische Kronkolonie, und nach China zu den dort stehenden verbündeten japanischen Truppen. Dass daraus nicht mehr wurde, lag am verloren gegangenen Krieg.

Das jähe Ende auch der zweiten militärischen Expansion des deutschen Imperialismus sollte die deutschen Strategien um Dominanz auch auf diesem Kontinent vorerst zum Erliegen bringen. Der nächste Abgesandte, der im Sinne Deutschlands in China tätig werden sollte, war für die Imperialisten insofern ein „Glückstreffer“, als dass sein Einsatz nirgendwo geplant wurde, aber trotzdem höchst erfolgreich werden sollte: es handelt sich um den gebürtigen Österreicher Heinrich Harrer, dem man wohl mit Fug und Recht das größte Verdienst an den bis heute sehr engen Beziehungen der BRD zur alten und mittlerweile exilierten tibetischen Feudalelite zusprechen kann.


Heinrich Harrer:
Deutschlands inoffizieller Botschafter in Tibet


Wohl keiner dürfte einen solchen prägenden Einfluss zumindest auf die westliche Tibet-Wahrnehmung ausgeübt haben wie eben jener Harrer: der Grazer Extrembergsteiger, bereits seit 1933 (also noch in der Illegalität) SA-Mitglied im (damals unabhängigen) Österreich und später nach der Annexion Österreichs auch im „schwarzen Korps“ SS und in der NSdAP (seit 1938), geriet im Jahre 1939 gemeinsam mit seinem Bergsteigerkollegen Peter Aufschnaiter in britische Kriegsgefangenschaft, nachdem sie bei dem Versuch, den Berg Nanga Parbat zu besteigen, in Indien vom Beginn des Zweiten Weltkrieges überrascht wurden. Der damalige Mitgefangene im britischen Internierungslager, Fritz Kolb, überzeugter Antifaschist und im Lager in ständiger Todesangst vor den dort offen gewalttätig auftretenden Nazis unter den Häftlingen, schilderte Harrer später als einen der gefährlichsten Obernazis im Lager: Harrer hätte sich mehrfach mit der Teilnahme an der Brandstiftung, die während der sog. „Reichspogromnacht“ gegen die Grazer Synagoge verübt wurde, gebrüstet.16

Harrer hielt es nicht lange im Kriegsgefangenenlager in Indien. Gemeinsam mit Aufschnaiter brachen die geübten Alpinisten (Harrer gehörte zu den Erstbesteigern der Eiger Nordwand) aus dem Camp aus und flüchteten über den Himalaja, nach Tibet. Ihr Ziel war, so Harrer in seiner Autobiographie „Sieben Jahre in Tibet“17, die japanische Front in China. Von den verbündeten Japanern erhofften sie sich die Ermöglichung einer raschen Heimreise nach Deutschland; in Europa tobte der Zweite Weltkrieg, und so weit ab vom Geschehen in Indien festzusitzen entsprach weder Wunsch noch Weltbild der jungen Männer. Tibet war dabei nur als Durchgangsstation ihrer Reise geplant; der Buchtitel verrät jedoch bereits, dass aus der Fraternisierung mit den in China kämpfenden japanischen Faschisten nichts wurde: Harrer sollte den gesamten zweiten Weltkrieg und die ersten Nachkriegsjahre auf dem Hochplateau verbringen. Nach einer beschwerlichen und gefahrvollen Reise über die bis zu 6.000 Meter hohen Gebirgspässe, mehrfachen Schummeleien mit gefälschten Grenzpapieren und Bestechung von Zollbeamten schaffte Harrer es gemeinsam mit Aufschnaiter bis nach Lhasa – sie waren dort zwar weder die ersten noch die einzigen Ausländer, doch war die Fremdenkolonie der Stadt überschaubar: ein englischer Diplomat residierte dort.

Nun gehen die Darstellungen der Beteiligten auseinander: Heinrich Harrer selbst schildert in seinem Buch, wie er bis zum Hauslehrer des jungen 14. (des jetzigen) Dalai Lama aufstieg: er will ihn in Englisch, Geographie und Naturwissenschaften sowie anderen Fächern unterrichtet haben; besondere Freude hätte dem unterdessen 15-jährigen Knaben das Betrachten militärischer Bildbände über den Zweiten Weltkrieg bereitet. Obendrein sei er, Harrer, es gewesen, der die vom verstorbenen 13. Dalai Lama hinterlassenen Filmprojektoren zum Laufen gebracht hat und so dem jungen Herrscher ein eigenes Kino einrichtete – der Dalai Lama hätte unwirsch bis beleidigt reagiert, wenn der deutsche Hauslehrer zu spät zum üblichen Termin eingetroffen sei; so wichtig seien ihm die Zusammenkünfte mit dem Ausländer gewesen. Von „Kundün“, dem „Ozean der Weisheit“, war Harrer laut eigener Aussage sehr angetan: „Seine Haut war viel heller als die es Durchschnittsstibeters und noch um einige Schattierungen lichter als die der Lhasa-Aristokratie. [Wir erinnern uns an das „arische“ Aussehen des Adels, das „Rassenexperte“ Beger bereits Jahre vorher festgestellt hatte! Anm. d. Verf.] Seine sprechenden, kaum geschlitzten Augen zogen mich gleich in ihren Bann; sie sprühten vor Leben und hatten nichts von dem lauernden Blick vieler Mongolen“.18

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Seit jeher „Gute Freunde“: Heinrich Harrer, diesmal mit dem Dalai Lama. Der Gelbmützen-Führer erkannte schnell den Nutzen des umtriebigen Österreichers und ließ sich dementsprechend bis zu dessen Tode im Jahr 2003 zu allen möglichen Anlässen, Preisverleihungen und Ehrungen mit ihm ablichten.
Der Dalai Lama selbst erwähnt den Namen Heinrich Harrer in seinem ersten, 1962 erschienenen Buch „Mein Leben und mein Volk – die Tragödie Tibets“, allerdings mit keiner einzigen Silbe, obwohl er durchaus über die in Lhasa anwesenden Ausländer zu berichten weiß, die laut Harrers Selbstauskunft nicht einmal annähernd an die eigene Rolle am Herrscherhof herankamen.
Heinrich Harrer verließ Tibet 1950, kehrte 1952 nach Österreich zurück und vermarktete seitdem äußerst gewinnbringend seine Tibet-Erfahrungen: sein Buch „Sieben Jahre in Tibet“ wird schnell zum Bestseller; bis heute führt es die Rankings der Reise- und Abenteuerliteratur in Deutschland unangefochten an. Jüngst wurde der Stoff verfilmt, mit Brad Pitt in der Hauptrolle: Harrer ließ es sich nicht nehmen, noch als Hochbetagter den Schauspieler persönlich zu instruieren. Auch die Wertschätzung, die Heinrich Harrer durch den Dalai Lama später erfahren sollte, ändert sich auf einmal: die Wichtigkeit des umtriebigen Abenteurers für das eigene Marketing erkennend, rückt sich der Dalai Lama ab jetzt regelmäßig mit Harrer ins rechte Medienlicht. Der Österreicher wird der beste „Verkäufer“ in Sachen „free Tibet“. Auf einmal erinnert sich der Dalai Lama daran zurück, dass er und Harrer seit der ersten Zusammenkunft (auf einer Massenprozession, die keinerlei Möglichkeit des direkten Kontakts bot, bei der Harrer aber bereits nach eigener Aussage „Blickkontakt“ mit dem jugendlichen Dalai Lama aufgenommen haben will!) schon „sehr gute Freunde“ gewesen seien.19

Auch in späteren Jahren treffen die beiden oft zusammen, und was für einen Mann der Dalai Lama als Chefpropagandisten an der Hand hat, ist ihm vollauf bewusst. In einem Interview 1997, mit den damals im Zuge der geplanten Verfilmung von „Sieben Jahre in Tibet“ bekannt gewordenen Naziverstrickungen Harrers konfrontiert, offenbart der „Ozean der Weisheit“ sein Geschichtsverständnis: „Natürlich wusste ich, dass Heinrich Harrer deutscher Abstammung war – und zwar zu einer Zeit, als die Deutschen wegen des Zweiten Weltkrieges weltweit als Buhmänner dastanden. Aber wir Tibeter haben traditionsgemäß schon immer für die Underdogs Partei ergriffen und meinten deshalb auch, dass die Deutschen gegen Ende der vierziger Jahre von den Alliierten genug bestraft und gedemütigt worden waren. Wir fanden, man sollte sie in Ruhe lassen und ihnen helfen.“20 Der Bergsteigerkollege Reinhold Messner, ebenfalls bekannt vor allem durch seine Reiseliteratur, hat Harrer ebenfalls kennen gelernt. Er schreibt im selben Jahr, 1997: „Immer wieder kam von Heinrich Harrer die Kritik, wir Jungen könnten nicht mehr Seilschaften fürs Leben bilden, uns fehlten Intensität, Treue und Ausdauer. Er hält immer noch für richtig, was die Nazis gepredigt haben.“21

Die zweite Welle der Tibetbegeisterung im Westen wurde initial maßgeblich von Harrer und seinen Publikationen gezündet: auf einmal rückte das ferne Märchenland wieder ins öffentliche Bewusstsein; diesmal jedoch weniger als geheimnisvolles, abgeschlossenes Reich, sondern vielmehr als Exempel für die grausame Unterdrückungspolitik der Kommunisten. Denn die chinesischen Kommunisten waren der Grund, warum Heinrich Harrer Tibet 1950 überstürzt verlassen musste und sein Freund und Schüler, der Dalai Lama, ihm einige Jahre später folgte.


Anmerkungen:
1 Vergl. hierzu: Ga, Zangjia: „Tibetan Religions“, China Intercontinental Press, 2003
2 (1856-60). Der Erste Opiumkrieg (1839-42) zwischen Großbritannien und dem Kaiserreich China der Qing-Dynastie. Als Ergebnis des Krieges wurde China zur Öffnung seiner Märkte und insbesondere zur Duldung des Opiumhandels gezwungen. Der Zweite Opiumkrieg oder „Krieg“ Großbritanniens und Frankreichs gegen das Kaiserreich China endete mit dem „Vertrag von Tianjin“ und der „Pekinger Konvention“, die in dieser Form von Kaiser Xianfeng am 18. Oktober 1860 ratifiziert wurden. Damit ergab sich für Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA das Recht, in Beijing (bis dahin eine geschlossene Stadt) Botschaften zu eröffnen. Diese Abkommen öffneten elf weitere Häfen für den Handel mit dem Westen, der Opiumhandel wurde legalisiert und Christen bekamen das Recht, die chinesische Bevölkerung zu missionieren sowie Eigentum zu besitzen.
3 Vergl. hierzu: „Regulations of the Republic of China Concerning Rule Over Tibet“, Compiled by China National Center for Tibetan Studies, China No. 2 History Archives. China Intercontinental Press, 1999.
4 Da die Phase der angeblichen „Unabhängigkeit“ Tibets zwischen 1913 und 1951 eine wesentliche Rolle in der Argumentation der exiltibetischen Seite darstellt, sei auch darauf verwiesen, dass es keinerlei völkerrechtlich verbindliche Klärung, bspw. seitens der UNO, zu dieser Frage gibt. Das „unabhängige Tibet“ ist historisch nicht haltbar.
5 vergl. Historische Koordinaten Tibet-China, China Intercontinental Press, 1997
6 zitiert nach: Goldner, Colin : Dalai Lama, Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg, 1999, S. 24
7 zitiert nach: ebenda, S. 22 f.
8 zitiert nach: ebenda, S. 32 ff.
9 vergl. Trimondi, V. & V.: Hitler, Buddha, Krischna, Wien, 2002, S. 156
10 die Basis für die – bis heute – in esoterischen Kreisen höchst populären rassistischen Verschwörungstheorien um das „arische Tibet“ legte die Gründerin der „Theosophischen Gesellschaft“, Helena Blavatski: sie verbreitete in ihrem (gefälschten) Reisebericht über Tibet den Mythos einer arischen Siedlung unter dem Himalaya, die von einer weißen arischen Bruderschaft geführt würde. Der tibetische Klerus wie auch Teile der tibetischen Bevölkerung seien nach Blavatski ebenfalls den „Ariern“ zuzurechnen und würden damit als Bundesgenossen der „Germanen“ in Frage kommen. Während des dt. Faschismus versuchten verschiedene Pseudowissenschaftler aus dem Dunstkreis der SS, diesen Unfug mit verschiedenen Mitteln wie Schädelvermessungen und dergleichen zu belegen. Auch nach dem 2. Weltkrieg knüpfen rassistische Esoterike an diese Theorien an. Anm. d. Verf.
11 Trimondi, V. & V.: Hitler, Buddha, Krischna, Wien, 2002, S. 133 f.
12 Dazu zählte u. a. eine „Indische Legion“ aus 3.000 indischen Kriegsgefangenen, die an der Westfront gegen die Alliierten (britische, amerikanische und kanadische Soldaten) eingesetzt wurde. Der antibritische Kampf an der Seite der deutschen Faschisten wurde im Wesentlichen geführt von Subhas Chandra Bose, von 1937-39 Generalsekretär des Indischen Nationalkongresses, damals noch unterstützt von linken Nationalisten, Sozialisten und Kommunisten. Der Versuch Großbritanniens, mit der Einführung des Kriegsrechts 1939 Indien im innerimperialistischen Krieg an die Seite Großbritanniens zu zwingen und jede Unabhängigkeitsforderung Indiens zu ersticken, trieb ultralinke Kräfte, darunter Bose, in die Arme des japanischen und deutschen Imperialismus. Sie begriffen nicht, im Übrigen ebenso wenig die bürgerlichen Befreiungskräfte um Gandhi, dass der Krieg mit dem Angriff auf die Sowjetunion seinen Charakter geändert hatte und zu einem antifaschistischen, gerechten Krieg der Völker gegen die faschistische Aggression wurde. Damit wurden sie für die faschistischen Kräfte leichte Beute, ebenso für den britischen Imperialismus, den sie damit nicht schwächen konnten, wohl aber die indische Unabhängigkeitsbewegung, die nun auch noch in dem Ruch stand, Faschisten zu unterstützen. (Vgl. Rajani Palme Dutt, „India Today“, 1940) Anm. d. Verf.
13 Im Auftrag der der SS angegliederten „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.“ betrieb Beger rassekundliche Forschungen, z. B. „zur Beschaffung von Judenschädeln zur anthropologischen Untersuchung“ durch Selektion im KZ Auschwitz. Die u. a. von Beger ausgesuchten Häftlinge wurden vergast, Beger wurde erst 1970 vor dem Landgericht Frankfurt am Main wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Das Gericht verurteilte ihn am 6. April 1974 wegen Beihilfe zu 86-fachem Mord zur Mindeststrafe von drei Jahren. Unter Anrechnung der Internierung nach dem Krieg und der Untersuchungshaft wurde ihm dabei der Strafrest wegen „guter Lebensführung“ erlassen. Anm. d. Verf.
14 zitiert nach: Trimondi, V. & V.: Hitler, Buddha, Krischna, Wien, 2002, S. 150
15 zitiert nach: ebenda, S. 130
16 vergl. Lehner, Gerald: Zwischen Hitler und Himalaya, Wien, 2007, S. 65
17 Harrer, Heinrich: Sieben Jahre in Tibet, Berlin 2006
18 zitiert nach: ebenda, S. 368
19 Goldner, Colin : Dalai Lama, Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg, 1999, S. 83
20 zitiert nach: ebenda, S. 83
21 Messner, Reinhold: Zeitschrift „Alpin“ München, 10.1997



 
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