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KAIRO/ANKARA/BERLIN (18.02.2011) - Berliner Regierungsberater schlagen eine Neuorganisation des ägyptischen Staates nach türkischem Modell vor. Hintergrund ist die Sorge, in Kairo könnten islamistische Kräfte mit antiwestlicher Orientierung die Oberhand gewinnen und die amerikanisch-europäische Kontrolle über die arabischen Ressourcengebiete in Frage stellen. Wolle man dies vermeiden, heißt es bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dann könne man die Türkei zum Vorbild nehmen. Diese wird im Westen seit geraumer Zeit als Modell für die arabische Welt und insbesondere für Ägypten genannt, weil sie eine gegenüber der EU kooperationswillige Ausformung des Politischen Islam hervorgebracht hat. Zuvor war es mit Hilfe des türkischen Militärs gelungen, missliebige politische Strömungen von der Macht fernzuhalten. Vergleichbares könne jedoch in Ägypten nur glücken, wenn die EU mit dem Land ähnlich eng kooperiere wie mit der Türkei, urteilt die SWP. Berlin dringt seit Wochen auf eine "Transformationspartnerschaft" der EU mit Kairo, die Ägypten weit enger als bisher an das europäische Hegemonialzentrum anbinden soll.

Prowestlich, autoritär

Wie es in einer aktuellen Stellungnahme aus der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) heißt, könne als Modell für das im Umbruch befindliche Ägypten und möglicherweise auch andere arabische Staaten die Türkei herangezogen werden. Die ägyptische Demokratiebewegung habe das bisherige Ordnungsmodell des Landes, das eine "außenpolitisch prowestliche" Orientierung auf der Basis einer islamisch-konservativen Kultur "innenpolitisch autoritär" abgestützt habe, zum Einsturz gebracht. Nun müsse eine Alternative geschaffen werden. Der Autor warnt vor einer antiwestlichen "totalitäre(n) islamistische(n) Herrschaft" nach iranischem Modell; diese könnte zustande kommen, sollte das Militär wider Erwarten seine bisherige Macht aus den Händen geben. Große Gefahr droht der Stellungnahme zufolge auch, sollte das Militär seine Herrschaft künftig "noch stärker islamisch zu legitimieren" suchen - nach pakistanischem Modell. Auf der Suche nach einem Ausweg schließt sich der Autor Vorschlägen an, die seit geraumer Zeit im Westen diskutiert werden; sie sehen das Vorbild für den künftigen ägyptischen Staat im türkischen Herrschaftssystem.1

Prowestlicher Islam

Im Mittelpunkt stehen dabei zweierlei Besonderheiten der türkischen Politik. Zum einen hat sich in den letzten Jahren der Politische Islam in der Türkei als recht kooperationswillig gegenüber der EU erwiesen. Hintergrund ist der wirtschaftliche Aufstieg konservativer Milieus aus dem anatolischen Hinterland, die sich in der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan organisieren und seit 2002 in Ankara die Regierung stellen. Die AKP ist klar islamistisch orientiert. Die sie tragenden anatolischen Unternehmer unterhalten enge ökonomische Beziehungen in EU-Länder; auf ihrer Grundlage hat die AKP intensive Kontakte nach Westeuropa geknüpft und verbindet das mit einer Hinwendung des von ihr repräsentierten Politischen Islam zur EU (german-foreign-policy.com berichtete2). Seither gilt die Partei maßgeblichen Kräften in Europa als Modell für die Möglichkeit, einen prowestlichen Islamismus zu prägen. Tatsächlich orientieren sich seit einigen Jahren islamische Kräfte aus Nordafrika, darunter Teile der einflussreichen ägyptischen Muslimbruderschaft, an der AKP. Wie es in einer vor kurzem publizierten Studie heißt, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) kofinanziert wurde, befürworten gut zwei Drittel der Bewohner von sieben arabischen Staaten, darunter Ägypten, eine Orientierung ihrer Länder am türkischen Modell.3 Eine prowestliche Ausrichtung der Muslimbruderschaft, die damit verbunden wäre, würde in den westlichen Hauptstädten begrüßt.

Prowestliches Militär

Zum anderen wird im Westen diskutiert, inwieweit sich das ägyptische Militär eine Stellung schmackhaft machen lässt, die derjenigen der türkischen Streitkräfte in den Jahrzehnten seit 1960 gleicht. Die türkischen Streitkräfte haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfach per Putsch interveniert. Gewöhnlich wurde damit die prowestliche Orientierung des Landes entweder gegen linke oder gegen islamistische Kräfte gesichert. Nach dem Putsch habe das Militär jeweils die Macht an eine demokratisch gewählte Regierung übergeben, heißt es in einer vieldiskutierten Analyse aus Ankara über die Phasen zwischen den Staatsstreichen, in denen die Streitkräfte zwar formell die Regierungsgeschäfte aufgaben, de facto jedoch die Macht behielten.4 Der Autor der Analyse, die eine ähnliche Funktion nun auch für die ägyptische Armee ins Auge fasst - es geht dabei faktisch um die letztinstanzliche Kontrolle über die Regierung mit dem Ziel, eine auf den Westen ausgerichtete Ordnung zu garantieren -, arbeitet am Washington Institute for Near East Policy.

Statthalter

Zugute käme eine Übernahme des türkischen Modells durch Kairo dem Westen vor allem deshalb, weil das ägyptische Militär sich in den letzten Jahrzehnten stets als loyaler Statthalter westlicher Interessen erwiesen hat: Es kooperiert mit den USA, Europa und Israel, um auf lange Sicht die Kontrolle über die arabischen Ressourcengebiete zu sichern (german-foreign-policy.com berichtete5). Ägypten wird dafür hohe Bedeutung zugeschrieben, weil es in der arabischen Welt traditionell eine herausragende Position einnimmt. Eine mit der Zuverlässigkeit der Streitkräfte vergleichbare Loyalität gegenüber den Zielen des Westens wird gegenwärtig von sämtlichen anderen politischen Kräften des Landes nicht oder nicht mit Sicherheit erwartet. Tatsächlich führt die Bundeswehr ihre Zusammenarbeit mit der ägyptischen Armee auch nach der jüngsten Machtübernahme der Militärs in Kairo fort - selbst trotz schwerster Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen, Soldaten seien für Verschleppung und Folter an zahlreichen Protestdemonstranten in den vergangenen Wochen verantwortlich.6 Dabei kann sie an langjährige Kooperationen anknüpfen: Bereits in den 1950er Jahren legten deutsche Militärs - oft ehemalige Soldaten aus Wehrmacht und SS - den Grundstein für den Ausbau der ägyptischen Streitkräfte.7

Peripherie

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) weist darauf hin, dass das türkische Modell für die arabischen Länder nur funktionieren kann, wenn die EU-Staaten zu ihnen "eine ähnliche Beziehung wie zur Türkei aufbauen". "Stichworte" seien eine "Kombination aus Förderung und Reformdruck" sowie eine "Steigerung und Intensivierung des kulturellen und zivilgesellschaftlichen Austauschs".8 Dies entspricht der Forderung nach einer "Transformationspartnerschaft" mit Ägypten, die das Auswärtige Amt in der EU durchzusetzen sucht. Wie das Ministerium mitteilt, gehörten dazu etwa "der Aufbau demokratischer Parteien, der Dialog über Rechtsstaatlichkeit, die Modernisierung der Justiz, der Aufbau eines fairen und transparenten Wahlsystems und die Förderung der Arbeit von freien und unabhängigen Medien".9 Diese Tätigkeiten werden gewöhnlich von den parteinahen Stiftungen übernommen, deren Arbeit in Ägypten sowie in weiteren Ländern Nordafrikas deutlich ausgeweitet werden soll; allein die Kairoer Stiftungsfilialen erhalten nun zusätzlich drei Millionen Euro aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das darüber hinaus bis zu acht Millionen Euro zur Förderung der Berufsausbildung junger Ägypter bereithält. Damit zielt Berlin auf eine deutlich engere Einbindung der Staaten Nordafrikas in die deutsch-europäische Peripherie, die diese Länder fest der Kontrolle des EU-Hegemonialzentrums unterstellen soll.


Anmerkungen:
1 Günter Seufert: Der türkische Weg? www.swp-berlin.org 15.02.2011
2 s. dazu Die neuen Partner in Ankara (I) und Die neuen Partner in Ankara (II)
3 The Perception of Turkey in the Middle East. TESEV Foreign Policy Analysis Series Vol. 10; Istanbul, December 2009
4 Soner Çağaptay: Turkish Model for Egypt? www.hurriyetdailynews.com 04.02.2011
5, 6 s. dazu Garant der Stabilität (II)
7 s. dazu Garant der Stabilität (I)
8 Günter Seufert: Der türkische Weg? www.swp-berlin.org 15.02.2011
9 Neuanfang in Ägypten; www.auswaertiges-amt.de



 
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