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Die Siebziger- und Achtzigerjahre

Eine neue Regierung, die im Frühjahr 1871 ihre Geschäfte antrat, erließ eine Amnestie, durch welche die Inhaftierten des Hochverratsprozesses wieder auf freien Fuß kamen.1

Die Verfolgung der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA)
Bereits wenige Tage nach der Zerschlagung der Pariser Kommune am 6. Juni 1871 – Lenin nannte die Machtübernahme der Arbeiter in Paris später „die von der proletarischen Revolution ‚endlich entdeckte’ Form, unter der die ökonomischen Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann“2 – erließ der französische Außenminister Jules Favre eine Zirkularnote an die europäischen Mächte, die alles daran setzte, diese davon zu überzeugen, dass das Vorgehen gegen die KommunardInnen in Frankreich allein nicht ausreichen könnte, um die von der Internationale ausgehende Gefahr für die Herrschenden zu bannen.3

Es folgten Konferenzen und Unterredungen der alarmierten Regierungen, in denen die strafrechtlichen wie auch sozialpolitischen Maßnahmen, die gegen die Internationale ergriffen werden könnten, erörtert wurden. In allen diesen Zusammentreffen, die sich bis in den Spätherbst 1872 erstreckten, wurden die Ziele und das Wirken der IAA aufs Schärfste verurteilt und auf ein Zusammenwirken der Staaten orientiert.4 Sie führten jedoch „weder in Deutschland noch in der österreichisch-ungarischen Monarchie zu einer Verschärfung der bestehenden Gesetze; ihre Auslegung allein ermöglichte die Unterdrückung der Internationale in beiden Ländern.“5

Einerseits hatten die Urteile im „Wiener Hochverratsprozess“ deutlich gemacht, dass ausreichend gesetzliche Handhabe gegen Hochverrat – und als solcher wurde die Tätigkeit in einem oder für einen Geheimbund, als welcher die IAA angesehen wurde, geahndet – vorhanden sei. Auch wollte sich die habsburgische Regierung nicht „offenkundig vor aller Welt als Handlager der französischen Rachejustiz […] degradieren“6 lassen.

Wirtschaftskrise und Fraktionskämpfe
1873 kulminierte eine Wirtschaftskrise, deren Auslöser ausufernde Spekulationsgeschäfte zu Beginn der Siebzigerjahre waren, die v.a. im Bereich des Eisenbahnbaus und Baugewerbes getätigt wurden.7
Am 9. Mai 1873, dem sogenannten ‚schwarzen Freitag‘, kam es zur längst erwarteten Katastrophe. Der Zusammenbruch eines der größten Börsenkomptoirs in den Morgenstunden dieses Tages löste eine Kettenreaktion aus, die die Wirtschaft der Monarchie in eine schwere und hartnäckige Krise stürzte. In der Folge jagte ein Krach den anderen.8
In dieser Zeit war auch die Arbeiterbewegung in tiefe Fraktionskämpfe, die sie politisch lähmten, verwickelt. Fuchs meint hierzu, dass ohne diese Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung „die Partei – oder das was sich so nannte – den Druck des Staatsapparats viel früher unwirksam gemacht“9 hätte.

Ab 1878 machte sich auch das deutsche „Sozialistengesetz“ in Österreich insofern bemerkbar, als dass deutsche sozialdemokratische Presse- und Agitationsmaterialien hierzulande kaum bis gar nicht mehr erhältlich waren. Politische Organisationen der österreichischen Arbeiterbewegung, die alles daran setzten, sich auf dem Boden der Legalität zu bewegen, wurden zugunsten der Radikalen immer weiter zurück gedrängt, was eine Hinwendung der Massen zu anarchistisch geprägten Ideen und Gruppen begünstigte.10

„Anarchismus“ und Terrorismus
Die […] Ultrarevolutionären griffen in den Jahren 1882 bis 1884 zu terroristischen Kampfmitteln wie Verübung von Attentaten (auf den Schuhfabrikanten Merstallinger im Herbst 1882 und Tötung von Polizeibeamten (Dezember 1883). […] Polizeiliche Verfolgung, die Verhängung des Ausnahmezustands über Wien und Umgebung im Jahre 1884, und die darauffolgenden Prozesse mit schwersten Strafen führten zum praktischen Zusammenbruch der Bewegung. Die Zeitungen mußten eingestellt werden, die Vereine wurden aufgelöst und öffentliche Versammlungen konnten nicht stattfinden.11
Das hier in mehreren Teilen wiedergegebene Referat "Frühgeschichte der österreichischen Arbeiterbewegung" wurde auf dem KAZ-Sommercamp "Anton Makarenko" 2009 gehalten.
Der Terminus „Anarchismus“ – er „bietet sowohl als Theorie wie auch in seiner Praxis kein einheitliches, statisches Bild“12 – war und ist ein politischer Kampfbegriff, der sowohl von den Herrschenden als auch von konkurrierenden Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung selbst gegen VertreterInnen einer radikalen Richtung mit einer gewissen Affinität zu politischen Attentaten und Terrorakten verwendet würde.

Das anarchistische Gedankengut war „durch mobile Arbeitskräfte, die in der Tradition der Handwerksburschen durch Europa zogen“, nach Österreich gelangt.13 Als Beispiel für eine prägende Figur sei hier der anarchistische Agitator Josef Peukert genannt, der 1881 in Österreich eintraf und infolge des über Wien und Umgebung verhängten Ausnahmezustands 1884 Österreich in Richtung London verließ.14
Je stärker die radikale Position innerhalb er Arbeiterbewegung wurde, desto repressiver wurde der Staatsapparat. Dabei waren die Übergänge gerade von der individualistisch-terroristischen Gruppe, die zweifellos objektiv die Arbeiterbewegung schwächte, da sie die Unterdrückungsmaßnahmen herausforderte, zu auch subjektivem, bewußtem Zusammenspiel mit den Behörden fließend.15
Mit den Ereignissen von 1884 war „der Einfluss der antiautoritären Radikalen zunächst völlig verschwunden“16 , da die meisten entweder ausgewiesen wurden oder in der Provinz verstreut lebten. Viele Anhänger hatten sich auch der sich formierenden Sozialdemokratie unter der Führung Victor Adlers angeschlossen, auch wenn es dort infolge anfangs persönlicher Differenzen in der Redaktion der Arbeiter-Zeitung ab 1889 wieder zur Formierung einer Opposition kam.17

Der Hainfelder Parteitag und der Aufschwung der organisierten Arbeiterbewegung

Der Parteitag in Hainfeld schaffte es, die durch Fraktionskämpfe so geschwächte Arbeiterbewegung in Österreich zu einen, was der in London weilende Friedrich Engels – nicht zuletzt aufgrund der „Nationalitätenfrage“ – in einem Brief an Karl Kautsky in Wien noch zweieinhalb Monate zuvor kaum für möglich hielt. Die Streitigkeiten um die Führerschaft schätzte er ein als den:
[…] Beweis, daß die großen Massen noch nicht im Übergang zur Partei begriffen sind, daß es zu langsam geht und daher die Schuld dafür von jedem auf andre geschoben und beßrer Erfolg von diesem oder jenen Zaubermittel erwartet wird. Da kann nur Geduld helfen, und ich bin froh, daß ich mich nicht einzumischen habe.18

War der Marxismus bislang in Österreich wie auch international „noch eine von vielen sozialistischen Strömungen […], [die] erst um die vorherrschende Stellung in den Arbeiterorganisationen“19 kämpfte, gab sich die Sozialdemokratie in Hainfeld ein Programm, das sich „im wesentlichen auf das ‚Kommunistische Manifest‘“20 von Marx und Engels aus dem Jahr 1848 stütze.

Prägend war hierfür mit Sicherheit auch die Rückkehr der – in der Mehrzahl jüdischen – Intellektuellen in die Partei „und der damit verbundenen Rezeption gewisser Teile des Marxismus“21 . Auch „das ambivalente Erbe der Revolution von 1848, das von den Burschenschaften aufgegeben wurde, [kehrte so] zur Arbeiterbewegung zurück.“22

Der Vereinigungsparteitag und seine Folgen
Mit dem Hainfelder Vereinigungsparteitag, der vom 30. Dezember 1888 bis zum 1. Jänner 1889 stattfand und an dem 80 Delegierte und 25 Gäste aus 13 Kronländern teilnahmen, wurden die hier nicht weiter erörterten Kämpfe zwischen Gemäßigten und Radikalen, auch Anarchisten genannt, überwunden und die Grundlage für eine einheitliche und schlagkräftige Sozialdemokratische Partei geschaffen.23
Etliche ebenso sinnlose wie brutale Aktionen24 ließen in der Arbeiterschaft Zweifel am Wert des Radikalismus entstehen. Die Regierung, die die Bewegung immer in halber Illegalität gehalten hatte, ging mit den schärfsten Methoden vor, wobei sie zwischen „Radikalen“ und „Gemäßigten“ gar nicht sehr genau unterschied. Die vernünftigen Leute aus beiden Fraktionen begannen zu verstehen, daß der interne Streit nur dem Klassenfeind nützte, von ihm sogar künstlich angefacht war25 . Ein Mann, der der Bewegung noch nicht lange angehörte, sich aber schnell Respekt auf allen Seiten verschafft hatte, Viktor (sic!) Adler, nahm das Versöhnungswerk in die Hand und hatte Erfolg. Das von ihm ausgearbeitete Programm war so gut durchdacht, daß es […] mit sämtlichen gegen eine Stimme angenommen wurde.26

Hainfeld, im niederösterreichischen Bezirk Lilienfeld gelegen, wurde deshalb als Tagungsort gewählt, weil der dortige Bezirkshauptmann, Graf von Auersperg als arbeiterfreundlich galt, was er freilich – bis auf ein gewisses Verständnis für manche soziale Forderungen – nicht war, sondern einfach der Auffassung, dass man der Arbeiterbewegung allein mit Verboten und Repressionen nicht begegnen konnte.27 Der Obrigkeit wurden, damit die Abhaltung des Parteitags gestattet wurde, zweierlei Konzessionen gemacht: erstens nahmen nur geladene Delegierte an der Versammlung teil, und zweitens wurden deren Einladungen durch Graf von Auersperg kontrolliert.
Als er großmütig verzichtete, jede einzelne Karte anzusehen, wurde er eingeladen, als Gast dem Parteitag beizuwohnen. Auersperg nahm huldvoll die höfliche Geste an und erstattete dem Innenminister alle drei Stunden einen telegrafischen Bericht über den Verlauf des Parteitages.28
Um die Legalität der sich konstituierenden Partei zu gewährleisten, wurden weder Statuten beschlossen, noch ein Parteivorstand gewählt – „von sich aus [wurde] dem staatspolizeilichen Prinzip der ‚Offenheit’ gegenüber der Behörde“29 entsprochen.

Der Erste Mai 1890
Der Aufwind nach dem Hainfelder Parteitag30 führte seit langem zur ersten großen Massendemonstration am 1. Mai 1890 – „zum ersten Mal […] als internationaler Kampftag der Arbeiterschaft öffentlich gefeiert“31 –, die den Höhepunkt einer „rege[n] Agitation für den Achtstundentag unter der Parole: ‚Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf‘“32 darstellte.
Welche Aufregung diese Vorbereitungsarbeit im reaktionären Lager auslöste, zeigt sich in der Tatsache, daß der österreichische Ministerrat unter persönlichem Vorsitz des Kaisers in mehreren Sitzungen erregt über die Frage verhandelte, ob man die 1.-Mai-Bewegung im Blut ertränken sollte oder nicht.
Am ersten Mai fanden in Wien mehr als 60 sozialdemokratische Versammlungen statt, die bis zu 3000 Besucher aufwiesen. […] Am Nachmittag demonstrierten weit über 100 000 Wiener Arbeiter im Prater.
33

Blütezeit der jungen Sozialdemokratie
Die behördlichen Repressalien gegen die Arbeiterbewegung am Beginn des Jahres 1890, wo noch mithilfe der Ausnahmegesetze die Zeitung Gleichheit eingestellt und der politische Verein Wahrheit aufgelöst wurde, konnten den Aufschwung letzten Endes nicht aufhalten. Nach diesem „gleichsam letzten Akt unter dem Ausnahmegesetz“34 erstarkte die Partei – auf der Einigung der Sozialdemokratie auf dem Hainfelder Parteitag aufbauend – rasch, die Mitgliederzahlen wuchsen an – auch unter „schwer erfassbaren proletarischen Schichten […] sowie auch angrenzende[n] sozialen Schichten (Angestellte, schlechtbezahlte Intellektuelle)“.35 Ein bis 1891 dauernder Wirtschaftsaufschwung, in der die Unternehmer unter dem Druck „einer über die gesamten Industriegebiete Cisleithaniens ausgedehnten vermehrten Streikaktivität“36 zur Festigung der Partei.

Ein wichtiger Organisator für die Arbeiterbewegung war die Arbeiter-Zeitung. Adler setzte alles daran, sie zur Tageszeitung auszubauen – sie wurde es ab Jänner 1895 –, was durch das Einschreiten des Staates, der in seiner Repression zunehmend versuchte, die Sozialdemokratie finanziell zu schwächen, erschwert wurde und korrespondierte über diese Frage auch mit dem in London lebenden Friedrich Engels.
Bei Eurer Preßgesetzgebung scheint mir der Schritt vom Wochenblatt zum Tagblatt ein sehr großer zu sein, der lange und starke Beine erfordert und Euch ganz anders als bisher in die Hände der Regierung liefert, die Euch durch Geldstrafen und Unkosten finanziell zu ruinieren sucht. Darin beweist sich wieder die – im einzelnen immer größere – Schlauheit Eurer Regierung; die Preußen sind dazu zu dumm und verlassen sich auf die brutale Gewalt. […] Es frägt sich für mich, ob Ihr ein Tagblatt sechs Monate gegen die Strafkosten halten könntet, und wenn’s eingehen müßte, wäre die Niederlage schwer zu verwinden.37

Trotz des starken Anwachsens38 bleibt hier festzuhalten, dass die Sozialdemokratie keine in sich gefestigte Organisation darstelle. So gab es de jure keine demokratische gewählte Parteileitung, auch wenn de facto die Redaktion der Arbeiter-Zeitung diese Rolle erfüllte. Die Koordinations- und Leitungstätigkeiten wurden von den einzelnen regionalen oder betrieblichen Arbeiterblättern wahrgenommen.39

Die Wahlrechtskämpfe

Der diesjährige Parteitag [es handelt sich um den vierten, 1894. – Anm. hw] hat besonders wichtige Aufgaben zu erfüllen. Es handelt sich in Österreich um die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts, jener Waffe, die in der Hand einer klassenbewußten Arbeiterschaft weiter trägt und sicherer trifft als das kleinkaliberige Magazinsgewehr in der Hand des gedrillten Soldaten.40
War anfangs das Ringen um demokratische Reformen ein essentielles, um die Legalität der Partei zu sichern und die Basis des Kampfes der österreichischen Arbeiterbewegung zu verbreitern, so waren die Kämpfe um das allgemeine Wahlrecht, über das man sich noch im Hainfelder Programm keine Illusionen machte41 , später das Einfallstor für die Übernahme reformistischer Politik, die mit Eduard Bernsteins Worten „Das Endziel ist nichts, die Bewegung alles“ zusammengefasst werden können.

Die erste Phase der Wahlrechtskämpfe42
Die Wahlrechtsbewegung nimmt in diesen Jahren eine Schlüsselstellung für die weitere Entwicklung der Sozialdemokratie ein. […] Alle Kraft der Bewegung wurde daher auf die Durchsetzung einer Wahlrechtsreform konzentriert und, als diese erreicht war, auf die direkte Wahlkampfarbeit.43

Zu Beginn des Wahlrechtskampfes war die Partei sehr erstarkt, auch wenn unter Zuhilfenahme der Parteiberichte nur Schätzungen über den Mitgliederstand gemacht werden können. Die Abonnentenzahl aller politischen Zeitungen der SDAP betrug jedenfalls 101.950, und die Arbeiter-Zeitung erreichte eine Auflage von über 22.000 Stück.44 Den politischen Optimismus, der mit der sich bald abzeichnenden Änderung des Wahlrechtes – auch wenn sie über Umwege erst 1895 zustande kam – um sich griff, bringt ein Brief Friedrich Engels‘ an Victor Adler zur Geltung: „Die Wahlreform ist aber nur der Anstoß, der den Stein ins Rollen bringt und andere Konzessionen wegen Presse, Vereinen, Versammlungen, Gerichtspraxis etc. zur Folge haben muß.“45 Adler saß in dieser Phase immer wieder Haftstrafen ab.

In dieser ersten Phase der Wahlrechtskämpfe verstand es die Sozialdemokratie, „ihre organisatorische Aufbauarbeit, ihre Kampagnen für Sozialgesetze und Wahlrecht zu verbinden mit einer Belehrung der Massen darüber, daß Reformen nur begrenzten Wert haben“46 .
Das Verhältnis von Endziel und ad-hoc-Politik, das ununterbrochen neu auftauchende Dilemma, ob die Agitation der Partei vom letzten Ziel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft oder von Tagesrücksichten bestimmt werden sollte, endete faktisch mit der Überhandnahme der Tagespolitik, also der theoretischen Position des Revisionismus.47
So kam es auch zu einem Schwenk in organisatorischen Fragen mit tief greifenden politischen Auswirkungen. Die Agitationstätigkeit, die sich zuerst in sich an industriellen Schwerpunkten orientierenden „Agitationsbezirken“ vollzog, wurde umgestellt auf geografische Einheiten, die den damaligen Wahlkreisen entsprachen, was – vergegenwärtigt man sich die so vollzogene Teilung gewachsener Parteistrukturen – die strategische Neuorientierung besonders verdeutlicht.48

Die Wahlrechtsreform von 1895 erweiterte die bestehenden vier Wahlkurien um eine weitere „allgemeine“, für die ein Großteil der erwachsenen männlichen Bevölkerung aktiv wahlberechtig war und in der 1897 die Sozialdemokratie 14 von 72 Sitzen in der „Allgemeinen Kurie“ – 350 Sitze waren insgesamt zu vergeben – erringen konnte.49

Die zweite Phase der Wahlrechtskämpfe
Sie ist gekennzeichnet durch eine wachsende Radikalisierung und Revolutionierung der Arbeiterklasse, durch großartige Massenbewegungen, die sich bis zu schweren Zusammenstößen der Arbeiter mit der bewaffneten Staatsgewalt steigerten. Sie ist gleichzeitig aber auch gekennzeichnet durch eine immer offenere Brems- und Beschwichtigungspolitik der Parteiführung.50
Während die sozialdemokratische Parteiführung das Kurienwahlrecht insofern akzeptierte, als dass sie den Massenkampf für das allgemeine Wahlrecht ein- und ihre Politik auf eine „Überredungstaktik“ umstellte.51 So wurden zwar über tausend Artikel der Arbeiter-Zeitung dem allgemeinen Wahlrecht gewidmet, aber, so Strobl, „die Tendenz dieser Artikel lag darin, die Bourgeoisie zu überzeugen, daß das Wahlrecht ihr Vorteil, dem kaiserlichen Hof zu beweisen, daß es für ihn eine Lebensfrage sei.“52

Nichtsdestoweniger gärte es in der österreichischen Arbeiterschaft v.a. in den böhmischen Gebieten, und die Kunde von der russischen Revolution von 1905 bestärkte die Arbeiterbewegung in ihrer Forderung, was die sozialdemokratische Parteiführung dazu nötigte, den Beschluss eines eintägigen Generalstreiks zu akzeptieren.

Am 31. Oktober kam es zu einer spontanen Massendemonstration und bereits am 2. November zu ersten blutigen Zusammenstößen mit der Polizei in Wien. „Auf dem Ring unternahm die Polizei eine Säbelattacke gegen Demonstranten. Gegen hundert Verwundete blieben auf dem Platz.“53
1905 stellte sich die Partei, die immer häufiger begann, Kompromisse mit dem herrschenden Staat zu schließen, erst nach anfänglichem Zögern an die Spitze der revolutionären Massenbewegung und beschränkte diese allein auf die Erreichung des Wahlrechtszieles.54
Nach weiteren Massenkämpfen war die Regierung schließlich dazu gezwungen, der Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht, das schließlich – unter enormen Abstrichen – Ende 1906 im Parlament beschlossen wurde, nachzukommen. Eine Sesshaftigkeitsklausel, die viele Arbeiter vom Wahlrecht ausnahm, eine höhere Gewichtung der deutschsprechenden Wähler und der gänzliche Ausschluss der Frauen machte dieses Wahlrecht weder allgemein noch gleich.55 Hier sei noch bemerkt, dass das Frauenwahlrecht – „Wir sind nicht geneigt, diesen Kampf in den Vordergrund zu stellen“56 , hatte Victor Adler noch 1903 auf einer Frauenkonferenz verlauten lassen – von der austromarxistischen SP-Führung niemals konsequent gefordert worden war.

1907 schließlich zog die Sozialdemokratie beim ersten Urnengang nach der Wahlrechtsreform mit 87 Abgeordneten in den Reichsrat ein und wurde somit zur zweitstärksten Fraktion nach den Christlichsozialen.57


Anmerkungen:
1 Vgl. Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 73
2 Lenin, Staat und Revolution. In: LW Bd. 25, S. 445
3 Vgl. Braunthal, Internationale Bd. 1, S. 168f.
4 Vgl. Braunthal, Internationale Bd. 1, S. 169—171
5 Braunthal, Internationale Bd. 1, S. 172, Hervorhebung von mir – hw.
6 Vgl. Braunthal, Internationale Bd. 1, S. 172
7 Vgl. Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 62f.
8 Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 63f.
9 Fuchs, Geistige Strömungen, S. 86
10 Vgl. Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 76f.
11 Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 77; Hervorhebung im Original.
12 Gerfried Brandstetter, Sozialdemokratische Opposition und Anarchismus in Österreich 1889–1918, In: Botz et. al., Im Schatten, S. 29
13 Helmut Konrad, Die Arbeiterbewegung in der Österreichischen Reichshälfte. In: Maderthaner (Hrsg.), Arbeiterbewegung bis 1914, S. 135
14 Vgl. Brandstetter, Opposition, S. 33; Peukert wird von Brandstetter dem „ältere[n] Typus des anarchistischen Revolutionärs aus der Zeit Bakunins“ (ebda.) zugeordnet..– Anm. hw
15 Konrad, Österreichische Reichshälfte, S. 135
16 Brandstetter, Opposition, S. 38
17 Vgl. Brandstetter, Opposition, S. 38
18 Engels an Karl Kautsky (London, 17. Oktober 1888). In: MEW Bd. 39, S. 115
19 Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 59
20 Strobl, S 13; Auch Hautmann und Kropf klassifizieren das Hainfelder Programm als „ein – wenn auch nicht in allen Formulierungen ideales – marxistisches Programm.“ (Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 94, Hervorhebung im Original.) – Anm. hw
21 Konrad, Österreichische Reichshälfte, S. 136
22 Konrad, Österreichische Reichshälfte, S. 136
23 Vgl. Steiner, Arbeiterbewegung, S. 282
24 Fuchs meint hier die Attentate und Raubüberfälle Anfang er 1880er Jahre – letztere sollten Geldmittel für die Partei zur Verfügung stellen. (Vgl. Fuchs, Geistige Strömungen, S. 86)
– Anm. hw.
25 Auch Maderthaner stellt fest, dass an den Terrorakten „teilweise polizeiliche agents provocteurs beteiligt waren.“ (Wolfgang Maderthaner, Die Entwicklung der Organisationsstruktur der deutschen Sozialdemokratie in Österreich 1889 bis 1913, In: ders. (Hrsg.) Sozialdemokratie und Habsburgerstaat, S. 28) – Anm. hw
26 Fuchs, Geistige Strömungen, S. 87
27 Vgl. Steiner, Arbeiterbewegung, S. 277f.
28 Steiner, Arbeiterbewegung, S. 282
29 Maderthaner, Organisation, S. 29
30 „In Östreich geht’s auch sehr gut, Adler hat die Sache famos in Ordnung gebracht […]“ (Engels an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken (London, 7. Dezember 1889) In: MEW Bd. 37, S. 322)
31 Priester, Kurze Geschichte Österreichs, S 478
32 Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 95
33 Strobl, S. 17; Einen Beleg für die Behauptung Strobls, dass darüber verhandelt worden wäre, ob man die die Feierlichkeiten zum 1. Mai „im Blut ertränken sollte oder nicht“ war an keiner anderen Stelle aufzufinden. Nachdem Strobls Lehrheft zur historischen Schulung von KPÖ-Mitgliedern diente, liegt hier der Schluss nahe, dass die Repressionen aus politischen Gründen des Staats überspitzt dargestellt wurden. – Anm. hw
34 Maderthaner, Organisation, S. 30
35 Fuchs, Geistige Strömungen, S. 90
36 Maderthaner, Organisation, S. 30
37 Engels an Victor Adler in Wien (London, 19. Februar 1892). In: MEW Bd. 38, S. 279; Hervorhebung im Original.
38 Nach einem sechstägigen Aufenthalt in Wien im September 1893 schreibt Engels begeistert an Laura Lafargue: „wenn man […] das einheitliche Ziel, die ausgezeichnete Organisation sieht, die Begeisterung erlebt, den unverwüstlichen Humor, der aus der Siegesgewissheit quillt, muß man mitgerissen werden und sagen: hier ist der Schwerpunkt der Arbeiterbewegung. […] Wenn Paris sich nicht in acht nimmt, kann es passieren, daß Wien den Anstoß zur künftigen Revolution geben wird.“ (Engels an Laura Lafargue in Le Perreux (London, 30. September 1893). In: MEW Bd 39, S. 125
39 Vgl. Maderthaner, Organisation, S. 31
40 Engels (London, 22. März 1894). In: MEW Bd. 22, S. 444
41 Das Programm hielt fest, dass man sich „über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen“(Zit. nach: Strobl, S. 15) brauchte.
42 Wir folgen hier der Einteilung Franz Strobls in „zwei Perioden im Wahlrechtskampf“ (S. 44—52), deren Grenze in etwa um die Jahrhundertwende anzuberaumen ist. – Anm. hw
43 Brigitte Kepplinger, Lassalleanismus in der österreichischen Arbeiterbewegung bis 1914. In: Maderthaner (Hrsg.), Arbeiterbewegung bis 1914, S. 155
44 Vgl. Maderthaner, Organisation, S. 30
45 Engels an Victor Adler in Wien (London, 16. Juli 1894). In: MEW Bd. 39, S. 270
46 Fuchs, Geistige Strömungen, S. 95
47 Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 104f.
48 Kepplinger, Lassalleanismus, S. 154
49 Vgl. Strobl, S. 45
50 Strobl, S. 44
51 Vgl. Strobl, S. 46
52 Strobl, S. 46, Hervorhebungen im Original.
53 Vgl. Strobl, S. 47—50
54 Strobl, S. 50
55 Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 95f.
56 Vgl. Strobl S. 50–52
57 Zit. nach: Strobl, S. 51
58 Vgl. Hautmann/Kropf, Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, S. 95


Literaturverzeichnis:
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Julius Braunthal, Geschichte der Internationale Bd. 1, Hannover 1961
Albert Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867—1918, Wien 1949
Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) – kurzer Lehrgang (=Bücherei des Marxismus-Leninismus Bd. 12), Berlin 1952
Peter Goller, „Während der Schlacht ist es schwer, Kriegsgeschichte zu schreiben,…“. Geschichtsschreibung der österreichischen Arbeiterbewegung vor 1934 (=Alfred Klahr Gesellschaft (Hrsg.), Quellen und Studien, Sonderband 10), Wien 2009
Hans Hautmann (Hg.), „Wir sind keine Hunde“. Das Protokoll des Arbeitertages vom 5. November 1916 in Wien (=Alfred Klahr Gesellschaft (Hrsg.), Quellen und Studien, Sonderband 11), Wien 2009
Hans Hautmann, Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945. Sozialökonomische Ursprünge ihrer Ideologie und Politik (=Schriftenreihe des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 4), 2. erw. Auflage, Wien 1976
Hans Hautmann, Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918—1924, Wien 1987
Hans Hautmann, Die Revolutionäre: Der Formierungsprozess der Linksradikalen (Österreich im Epochenjahr 1917, Teil 4), In: Alfred Klahr Gesellschaft. Mitteilungen, 14. Jg./Nr. 4, Wien 2007
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Alfred Kosing, Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, Berlin (DDR) 41985
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Wolfang Maderthaner (Hrsg.), Arbeiterbewegung in Österreich und Ungarn bis 1914. Referate des österreichisch-ungarischen Historikersymposiums in Graz vom 5. Bis 9. September 1986 (= Karl R. Stadler (Hrsg.), Materialien zur Arbeiterbewegung Nr. 45), Wien 1986
Wolfgang Maderthaner, Die Entwicklung der Organisationsstruktur der deutschen Sozialdemokratie in Österreich 1889 bis 1913. In: Wolfang Maderthaner (Hg.), Sozialdemokratie und Habsburgerstaat (= Karl Blecha et.al. (Hg.), Sozialistische Bibliothek, Abteilung 1: Die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie, Bd. 1), Wien 1988
Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Berlin (DDR) 1972
Eva Priester, Kurze Geschichte Österreichs. Aufstieg und Fall des Habsburgerreiches, Wien 1949, S. 449–478
Arnold Reisberg, Februar 1934. Hintergründe und Folgen, Wien 1974
Herbert Steiner, Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867—1889, Wien 1964
Herbert Steiner, Die Kommunistische Partei Österreichs von 1918—1933. Bibliographische Bemerkungen (= Wolfgang Abendroth (Hg.), Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, Band 11), Wien/Meisenheim am Glan 1968
Franz Strobl, Die österreichische Arbeiterbewegung bis zum ersten Weltkrieg, Wien 1952