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Die III. Konferenz "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" - Schwerpunkt "'Heim ins Reich'? - Deutsche Volksgruppenpolitik" wurde von www.secarts.org veranstaltet und fand vom 02. bis zum 05. Juni 2011 in Göttingen statt.
Dieser Text wurde als Referat auf der III. Konferenz gehalten. Weitere Referate der III. Konferenz werden im Laufe der Zeit verschriftlicht sowie als Audiodateien zum Download bereitgestellt.


Deutsche Kriegsfronten heißt das Thema, das wir als ständigen Untersuchungsgegenstand in den Hauptfeindkonferenzen behandeln. Angesichts der aktuellen Ereignisse werde ich mich allerdings mit einer Kriegsfront beschäftigen, an der Deutschland nicht teilnimmt und aufzeigen, dass dieses Verhalten der staatlichen Vertreter des deutschen Imperialismus mindestens so gefährlich ist, als eine weitere Kriegsfront, an der Deutschland teilnimmt.

Die Militärintervention in Libyen
Ausdruck gemeinsamer Interessen der imperialistischen Staaten?


Für große Teile der Linken war es schnell klar: Dieser Krieg ist ein Krieg der Nato um das libysche Öl. Ich halte diese Einschätzung für falsch und absolut irreführend, sowohl, was die Reduzierung der Gründe für den Krieg gegen Libyen auf das Öl betrifft, wie auch, was dabei die Hervorhebung gemeinsamer Interessen der imperialistischen Mächte unter Führung der USA angeht. Denn genau das versteht man darunter, wenn von einem Krieg der Nato die Rede ist: das gemeinsame Vorgehen des westlichen Militärblocks unter Führung des US-Imperialismus gegen den Rest der Welt
Nun ist das Verhalten der imperialistischen Mächte angesichts des Überspringens der Aufstände in Tunesien und Ägypten nach Libyen, soweit es uns durch die öffentliche Berichterstattung dargestellt worden ist, schwer durchschaubar und verwirrend. Deshalb werde ich im Folgenden noch einmal die Ereignisse nachvollziehen.

Â… eine Chronologie der Ereignisse

Als Ende letzten Jahres Hunger und Not, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung sich in Massenprotesten fast aller Klassen und Schichten in Tunesien gegen die Regierung zu entladen begannen, waren die Herrschenden in den imperialistischen Staaten offensichtlich überrumpelt. Auch wenn die Öffentlichkeit in die dann beginnenden Aktivitäten der Geheimdienste und anderer Stellen nicht eingeweiht wird, muss man davon ausgehen, dass fieberhaft versucht wurde, herauszubekommen, was und wer hinter diesen Aufständen steckt und auf wessen Seite man sich stellt. Als soweit klar war, dass, wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 29./30.1.2011 schrieb, hinter den Aufständischen Kräfte stehen, die „im Augenblick mehr Gerechtigkeit wollen, aber nicht Enteignung im großen Stil“, die Eigentumsverhältnisse und damit die letztendliche Ursache für die elende Lage der Massen also nicht unmittelbar bedroht waren, entschied man sich, die Verjagung der Präsidenten und Regierungen dem Volk zu überlassen und die Kräfte, wie das Militär in Ägypten, zu unterstützen, die dafür sorgen würden, dass die „Jasminrevolution“ auch bestimmt nicht zu einer wirklichen Revolution führen wird. Denn die Verhinderung einer grundlegenden Umwälzung bestehender Verhältnisse ist tatsächlich ein Ziel, das der Monopolbourgeoisie weltweit gemeinsam ist, geht es dabei doch um ihr Überleben. Es schien den Imperialisten und ihren staatlichen Stellen also ratsam, sich angesichts der doch bedrohlichen Zusammensetzung der Proteste zumindest auf der Oberfläche nicht in die inneren Angelegenheiten der Staaten einzumischen. Kolonialistengehabe sollte vermieden werden. Man schrieb Demokratie und Menschenrechte auf die Fahnen und versprach Unterstützung. Die gerade noch treuen Vasallen für die Durchsetzung eigener Interessen wie Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten ließ man wie eine heiße Kartoffel fallen. Doch schon die Durchsetzung dieser Linie verlief nicht ohne Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten und ihren Vertretern, was man, bei genauem Lesen selbst der bürgerlichen Presse entnehmen konnte. Dazu nur ein Beispiel, das auf den weiteren Fortgang der Entwicklung hinweist: Die Merkelregierung, unbeleckt von einer kolonialen Vergangenheit in diesem Gebiet aufgrund der speziellen Entwicklung des deutschen Imperialismus als zu spät und zu kurz Gekommener, setzte schnell auf eine Unterstützung der Aufständischen, um den deutschen Einfluss in Nordafrika zu sichern. Der bundesdeutsche Außenminister Westerwelle bereiste Tunesien und Ägypten, ließ sich von den Massen feiern, schüttelte Hände, versprach deutsche Unterstützung für die sog. Revolution. „'Du bis Ägypter', ruft die begeisterte Menge“ berichtete die SZ1 ebenso begeistert von dem Besuch Westerwelles in Ägypten. Zeitgleich wurde bekannt, dass die französische Außenministerin noch während der tunesischen Proteste enge Beziehungen zu Ben Ali pflegte und ihm anbot „auf das Wissen französischer Sicherheitskräfte beim Kampf gegen die Aufständischen zurückzugreifen“2. Frankreich, einst Kolonialmacht in Tunesien, setzte also zunächst noch auf die alten Vasallen. Dass dies bekannt wurde war schlecht für den französischen Imperialismus und seinen Einfluss in Nordafrika, gut für den deutschen. Dieser konnte so eine alte Traditionslinie im Kampf gegen England und Frankreich zur Geltung bringen, die scheinbare Unterstützung der arabischen Volksmassen gegen die bösen Kolonialherren.

Mit dem Beginn der Kämpfe in Libyen änderte sich das Bild schlagartig. Statt der mehr oder weniger drängenden Aufforderung, abzutreten, forderte man, allen voran auch Deutschland, schnell Sanktionen gegen die libysche Regierung unter Gaddafi. Deutsche Kriegsschiffe fuhren auf, offiziell um deutsche Staatsbürger zu evakuieren, wofür jedoch auch jedes andere Schiff gereicht hätte. Mit deutschen Militärflugzeugen ließen die dort ansässigen deutschen Konzerne ihre Mitarbeiter ausfliegen. In Kreta zog die Nato Kriegschiffe zusammen. Es war klar, die Zeit der offiziellen Nichteinmischung in Nordafrika war vorbei, die nächste Kriegsfront wurde vorbereitet. Doch durch wen? Und warum? Letztere Frage lässt sich vordergründig auch mit den großen Ölvorräten Libyens beantworten.

In libyschem Boden liegen die größten Ölreserven Afrikas. Es soll, so wird überall berichtet, gutes, leicht zu förderndes und zu verarbeitendes Öl sein und damit ausgesprochen profitabel. Alle großen Ölmonopolisten sind in Libyen aktiv, darunter auch eines, das sonst in der Ölförderung rund um die Welt kaum bekannt ist: Wintershall, die Energietochter des Chemieriesen BASF, die dort v.a. auch BASF mit den nötigen Rohstoffen versorgt. Doch die verschiedenen Monopole sind in äußerst unterschiedlichem Ausmaß aktiv und nicht in der Rangfolge, die sonst den Marktanteilen der verschiedenen Ölkonzernen entspricht, also den US-amerikanischen, der britischen BP, der britisch-niederländischen Shell und der französischen Total mit den größten Anteilen. In Libyen ist die italienische Eni am stärksten in die Ölförderung involviert und hatte vor dem Beginn der Aufstände mit 244.000 Barrel täglich einen Anteil von 25 Prozent an den libyschen Erdölexporten. Wintershall kam auf 100.000 Barrel (10%), die französische Total dagegen nur auf 55.000.3 BP und die US-amerikanischen Ölmonopole sind erst seit 2004 wieder in Libyen aktiv und haben wesentlich kleinere Anteile an der Ölförderung. Um das zu verstehen ist ein kurzer Ausflug in die Geschichte notwendig. Als Gaddafi 1969 mit einer Gruppe von Offizieren den König Idriss stürzte mit dem Ziel, den Reichtum des Landes nicht völlig den imperialistischen Staaten zu überlassen und das Land von der Abhängigkeit zu befreien, hatte er nicht nur die britischen und US-amerikanischen Militärstützpunkte räumen lassen, sondern begann auch mit einer Teilnationalisierung der Erdölvorkommen. Er drängte die ausländischen Ölmonopole zurück, was damals vor allem die US-amerikanischen betraf, die 87,5 Prozent der gesamten libyschen Erdölförderung kontrollierten, wie auch BP, das 1974 nach einem Artikel der Zeit völlig verstaatlicht wurde. Sowohl die italienische Eni, seit 1959 in Libyen aktiv, wie Wintershall, dort seit 1958, haben diese Zurückdrängung offensichtlich gut überstanden. Lt. Financial Times Deutschland (FTD) vom 12.12.2004 entging Wintershall der Verstaatlichung und war 2004 der größte ausländische Ölproduzent (offensichtlich damals noch vor Eni, was eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse seit 2004 zwischen Italien und Deutschland in Libyen beinhalten würde.) Seit 1973 müssen alle ausländischen Ölmonopole dem libyschen Staat eine Beteiligung von mindesten 51 Prozent einräumen.4 Diese Beteiligung an den Erlösen variiert offenbar; so muss BP nach einem Artikel der „Zeit“ 80 Prozent abgeben5. Wie das bei Eni und Wintershall aussieht wird weniger offensichtlich publiziert, man kann aber davon ausgehen, dass sie aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit bessere Konditionen ausgehandelt haben. Dazu kommen vielfältige Kontakte und Beziehungen anderer Monopole (wie z.B. Siemens) und ihrer jeweiligen Staaten – also Italien und die BRD – zu Libyen. Gemeinsam könnte den Monopolen also das Ziel einer völligen Kontrolle des libyschen Ölreichtums sein, wogegen das westliche Schreckgespenst Gaddafi, auch wenn er sich Anfang dieses Jahrhundert den Imperialisten andiente, immer noch steht. Weiß man nun auch, dass die Aufständischen in Libyen die Fahne des Königs vor sich her tragen, und Vertreter des Übergangsrats der Rebellen bessere Vertragsbedingungen für die ausländischen Konzerne in Aussicht gestellt haben, so wird schon klar, warum die Großmächte bei Libyen „Demokratie und Menschenrecht“ sehr viel offensiver einfordern, als in Tunesien oder Ägypten. Doch gleichzeitig wird die Bewegung zwischen den Monopolen, die Konkurrenz, der Kampf um Einfluss und Macht zwischen ihnen deutlich, was das unterschiedliche Verhalten der westlichen Regierungen, will man es nicht einfach negieren, wie es vielfach zusammen mit einem schon fast reflexartigen Hinweis auf den Hauptkriegstreiber USA feststellbar ist, schon eher erklärt.

…Scheinbare Einmütigkeit auf Kosten des italienischen Imperialismus

Die Frage „durch wen“ die libysche Kriegsfront vorangetrieben worden ist, war zunächst schwierig zu beantworten. Anfangs schienen sich alle maßgeblichen Kräfte in Europa, wie auch die USA einig – mit Ausnahme Italiens. Der italienische Imperialismus, der schwächste der imperialistischen Staaten, wurde als erster ganz offensichtlich zurückgedrängt. Die ehemalige Kolonialmacht Libyens, über Eni am dicksten am libyschen Ölgeschäft profitierend und unmittelbare Anlaufstelle afrikanischer Flüchtlinge war am meisten darauf bedacht, den Türsteher Gaddafi nicht zu verlieren und verhinderte zunächst Beschlüsse der EU zu Sanktionen gegen die Gaddafi-Regierung. Die italienische Regierung musste sich aber aufgrund der Kräfteverhältnisse geschlagen geben und setzte den mit Libyen vereinbarten Freundschaftsvertrag aus, um überhaupt noch eine Chance zu haben, den Einfluss Italiens in Libyen zu retten6. Auf Initiative von Deutschland, Frankreich und Großbritannien verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 23.2. eine Presseerklärung (Resolution 1979) in der die „Anwendung von Gewalt gegen Zivilisten“ verurteilt, der „Tod von Hunderten Zivilisten“ bedauert und erste Sanktionen beschlossen wurden7. Wenige Tage darauf beschloss die EU noch scheinbar einmütig Sanktionen gegen die libysche Regierung, die über die UN-Resolution hinausgingen. Die Einrichtung einer Flugverbotszone, eine Option, die sich auch die deutsche Regierung offen gehalten hatte, so meinte zumindest die FAZ8, liege nicht mehr auf dem Tisch. Bis dahin hatten die deutschen Vertreter eine durchaus führende Rolle in der Forderung nach Sanktionen gegen die libysche Regierung. Doch die FAZ täuschte sich offensichtlich bezüglich der Flugverbotszone.

Â… Das Vorpreschen Frankreichs

Denn dann, nachdem die Aufständischen von Gaddafis Truppen zurückgedrängt wurden, preschte Sarkozy mit der Anerkennung des „Libyschen Nationalrates“ der Aufständischen in Benghasi als „legitimen Repräsentanten des libyschen Volkes“9 vor. Gleichzeitig verstärkte er seine Forderung nach Durchsetzung einer Flugverbotszone. Wie die FAZ Bezug nehmend auf die französische Zeitung Le Monde, weiter berichtet, plante der französische Präsident gemeinsam mit London gezielte Luftschläge in Libyen. Da er davon ausging, dass eine Flugverbotszone im UN-Sicherheitsrat nicht durchzusetzen sei, strebte er eine Sicherheitsresolution an, die willigen Staaten den „Einsatz von Waffengewalt gegen das Gaddafi-Regime gestatte“10 und zwar ausdrücklich außerhalb der Nato. Sowohl Außenminister Westerwelle, wie auch die Kanzlerin, wandten sich gegen eine Anerkennung der Aufständischen als Vertreter Libyens, wie auch gegen eine Flugverbotszone. Es müsste zuerst überprüft werden, ob die Mitglieder des Rates wirklich für das libysche Volk sprächen, meinte Westerwelle, was wohl eher so zu verstehen ist, dass die deutsche Regierung erhebliche Zweifel hatte, ob die Aufständischen im Sinne deutscher Interessen handelten. Die deutsche Ablehnung der Durchsetzung einer Flugverbotszone interpretiert die FAZ folgendermaßen: „Offenbar herrscht in der Bundesregierung die Sorge, dass ein militärisches Eingreifen des Westens von Gaddafi als Imperialismus dargestellt werden könnte, was dann über eine negative öffentliche Meinung die Demokratisierungsprozesse in anderen arabischen Ländern gefährden könnte.“11 Sprich: man will den gewachsenen deutschen Einfluss in der Region nicht verlieren. Äußerst skeptisch äußerte sich auch der US-amerikanische Verteidigungsminister Gates zu den französisch-britischen Plänen einer Flugverbotszone. „Ranghohe Mitarbeiter des Pentagons“, so die FAZ weiter „äußerten in Brüssel ihren Ärger über die fortgesetzten Forderungen europäischer Partner nach einem Flugverbot über Libyen, das ohne eine militärische Führungsrolle der Vereinigten Staaten gar nicht durchgesetzt werden könnte.“ Und das Weiße Haus gab lt. FAZ zu bedenken, dass selbst ein durchgesetztes Flugverbot „die Kräfteverhältnisse am Boden nicht entscheidend zugunsten der Aufständischen verschieben würde.“ An einem weiteren Bodenkrieg, und das, zumal es vor allem um Interessen europäischer Staaten und ihrer Monopolbourgeoisien ging, hatte die USA aber offensichtlich kein Interesse. Das war der Stand am 10.März, ein Stand, der eher an ein deutsch-amerikanisches Bündnis gegen Frankreich und Großbritannien denken lässt, auf jeden Fall aber deutlich macht, dass der Charakter dieser Auseinandersetzungen mit einem gemeinsamen Interesse an Öl und einem gemeinsamen Vorgehen aller imperialistischen Staaten nichts mehr zu tun hat. Es kam nochmals anders. Am 17.3. beschloss der UN-Sicherheitsrat auf Betreiben Frankreichs im Bündnis mit Großbritannien die inzwischen berühmte Resolution 1973, in der praktisch alles erlaubt wird außer der Einsatz von Bodentruppen. Die US-Vertreter, noch 24 Stunden vorher gegen einen Militäreinsatz, stimmten überraschend zu. Deutschland blieb trotzdem bei seiner Ablehnung und enthielt sich gemeinsam mit der VR China, der Russischen Föderation, Brasilien und Indien. 2 Tage später beschossen französische, britische und dann auch US-amerikanische Kampflugzeuge libysche Flugabwehrstellungen und die libysche Luftwaffe.


Der II. Teil des Referatstextes erscheint am Donnerstag, den 30.06.2011, auf secarts.org; der III. Teil am Sonntag, den 03.07.2011.


Gretl Aden, KAZ-Arbeitsgruppe „Zwischenimperialistische Widersprüche“.
Referat, gehalten auf der III. Konferenz „Der Hauptfeind steht in eigenen Land!“, Göttingen, Juni 2011

Anmerkungen:
1 SZ 2./3.4.11
2 sueddeutsche.de vom 27.2.2011
3 welt online vom 24.2.2011
4 nach Lühr Henken: Das libysche Öl und die Nato, abrufbar unter www.ag-friedensforschung.de/regionen/Libyen/henken.html; Lühr bezieht sich dabei auf das Buch: Länder der Erde; Köln 1981, S.383
5 zeit online vom 6.5.2009
6 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 28.2.11
7 FAZ 24.2.2011
8 28.2.2011
9 FAZ.NET 10.3.2011
10 ebd.
11 ebd.



 
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  Kommentar zum Artikel von Marcel: Webseite
Freitag, 01.07.2011 - 01:13

Rainer,

die Frage, warum die USA etwas tun oder nicht tun, hat oft weder eine eineindeutige Antwort noch sind die Antworten vorausschauend in die Zukunft wirklich im Interesse der herrschenden Klasse der USA. Man denke nur an den Krieg gegen den Irak. Dazu gibt es auch einen ganzen Strauß an unterschiedlichen Gründen, die von den unterschiedlichen Entscheidungsträgern jeweils für maßgeblich befunden worden waren, um den Krieg zu beginnen. Und vorausschauend in die Zukunft in dem Sinne, dass er letztlich wirklich im Sinne der herrschenden Klasse der USA war, war der Krieg gegen den Irak auch nicht. Hätten die Entscheidungsträger geahnt, was bei dem Krieg gegen den Irak herauskommt, hätten viee der Entscheidungsträger sich vermutich dagegen ausgesprochen. Solche Irrtümer passieren öfter mal, nicht nur beim Krieg gegen den Irak, sondern zum Beispiel auch bei den Kriegen gegen Vietnam und Afghanistan hat sich die herrschende Klasse der USA gründlich verkalkuliert.

Das vorangeschickt, soweit aus Obama's Presidential Study Directive 11 bisher bekannt ist, haben die USA sich meiner Meinung nach Sorgen darum gemacht, dass es ohnehin zu Aufständen gegen einige der repressiven Regimes dort kommen würde, und die USA dann, wenn die Aufstände erfolgreich sein würden, ähnlich wie im Iran 1979 sämtlichen Einfluss verlieren würden. Um das zu verhindern, den Umbruchprozes zu kontrollieren und dafür dann auch das Ergebnis mitbestimmen zu können, haben die USA die Aufstände gegen ihre Client-Regimes selbst losgetreten. Und wo sie ihre eigenen Client-Regimes umgegraben haben, konnten sie dabei gleich auch noch versuchen, sich lang gehegte Wünsche zu erfüllen und unter dem Banner "arabischen Frühling" gleich auch bunte Regime Change Operationen in Libyen, Syrien, Algerien, Mauretanien fahren. Als Bonuspunkte wären dann, wenn es gut gelaufen wäre, auch noch bunte Revolutionen im Iran und in China dringewesen. Versucht haben die USA es da jedenfalls auch - aus China ist sogar der US-Botschafter Huntsman deswegen rausgeflogen.

Hätte die Operation "arabischer Frühling" so geklappt, wie die USA sich das im besten Szenario wohl vorgestellt haben, dann hätten die USA mit bunten Revolutionen in Ägypten, Tunesien, Jemen, Algerien, Libyen, Syrien, Mauretanien, Iran und China pro-amerikanische Vorzeige-Demokratien und in den pro-amerikanischen Monarchien am Golf sowie in Marokko pro-amerikanische repräsentative Vorzeige-Monarchien geschaffen und in all diesen Ländern wären jubelnde Menschen auf den zentralen Plätzen der Stadt gewesen und hätten US-Fahnen geschwenkt. Selbst ein Teilerfolg wäre noch ein riesiger Erfolg für die USA im Allgemeinen und für Obama im Besonderen gewesen. Wie wir inzwischen sehen, haben die USA sich bei ihrem großen bunten Regime Change Spiel offenbar grob verkalkuliert, aber, siehe oben, es ist nicht das erste Mal, dass die USA sich derbe verkalkulieren.

@retmarut
Ja, die WIkileaks-Dokument gibt es auch und sie geben einige Hinweise auf US-Händchen. Das ist aber längst nicht alles. In der Wikipedia findet sich ein Artikel zu einem wesentlichen aus der Bush-Zeit stammenden US-Regierungsprogramm, über das einige der Aktivisten trainiert wurden, und das eine Vorstelllung über das Spektrum der Zielländer liefert:

http://en.wikipedia.org/wiki/Middle_East_Partnership_Initiative

Und im ORF kamen kürzlich sogar einige der Trainer der Aktivisten zu Wort, erfahrene Leute von Otpor, die für George Soros auch schon den Umsturz in Serbien organisiert hatten:

http://www.youtube.com/watch?v=cY8xFCltdtE

Wozu es leider viel weniger Informationen gibt, ist die militärische Komponente der Umstürze. Sowohl in Tunesien wie auch in Ägypten haben die USA ihre Militärkontakte genutzt, um die Aufstände formell jeweils mit einem Putsch und anschließenden Wahlversprechen abzuschließen. "Ganz zufällig" hatten die USA auch in der Endphase der ägyptischen Revolution einen Flugzeugträger, ich miene es war die USS Enterprise, vor der ägyptischen Küste stehen, der zufällig vor dem Beginn des Aufstandes aus den USA in Richtung rotes Meer fü Routine-Operationen losgefahren war. Es gibt da bestimmt noch viel zu erforschen.

Dass die USA in den Ländern so fleißig am Regime Change in den Ländern gearbeitet haben, heißt aber wie gesagt nicht, das sie die Aufstände und die sich daraus ergebenden Prozesse wirklich kontrollieren können. Meier Meinung nach sieht es vielmehr so aus, als hätten die USA in Tunesien und in Ägypten inzwischen die Kontrolle fast ganz verloren, weil sie da fast nur auf pro-westliche Liberaldemokraten und sekuläre Bürgerrechtler gesetzt haben und die Stärke der islamischen Befreiungsbewegungen völlig unterschätzt haben.


  Kommentar zum Artikel von retmarut:
Mittwoch, 29.06.2011 - 02:33

Die These des "kalkulierten Spiels" in diesem Fall kannte ich noch nicht. Über die These lässt sich ja durchaus diskutieren. Laut Wikileaks-Material der US-Botschaft aus Kairo (Quelle The Telegraph) gab es schon länger Kontakte zwischen den USA und der Bewegung 6. April, allerdings scheinen deren Pläne für eine "democratic transition of the state" von US-Seite als völlig unrealistisch und irre abgetan worden zu sein.

Die US-Botschaft hatte sicher genug Datenmaterial, dass es in Ägypten brodelt, aber mir scheint, dass die US-Vertretung tatsächlich von der aus Tunesien überschwappenden Welle überrascht wurde. Anders lässt sich vermutlich kaum erklären, warum die USA (und auch andere, dort mitmischende imperialistische Staaten) derart kopflos reagiert haben.

Die Frage von Rainer halte ich für berechtigt: Aus welchem Grund sollten diese imperialistischen Staaten überhaupt solch ein Szenario herbeiführen? Mubarak und Ben Ali waren doch loyale Kompradoren.
Das Szenario machte doch nur Sinn, a) um eine schleichende Kontrolle durch einen imperialistischen Konkurrenten zu unterbinden oder b) bei einem drohenden Einflussverlust aufgrund von antiimperialistischer oder gar sozialistischer Bewegungen.


  Kommentar zum Artikel von Rainer:
Dienstag, 28.06.2011 - 22:32

@ Marcel:

Da bleibt dann nur eine einzige Frage :

Warum sollten die USA ihre langjährigen und engen Verbündeten Ben Ali und Mubarak stürzen ?!

Es gab ja nun nicht ein kleinstes Indiz, daß die beiden abtrünnig geworden wären oder so.

Aber irgendwie müssen die USA eben doch an allem schuld sein.


  Kommentar zum Artikel von Marcel: Webseite
Dienstag, 28.06.2011 - 21:20

Die These, dass die Herrschenden in den imperialistischen Staaten offensichtlich überrumpelt waren, als Ende letzten Jahres Hunger und Not, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung sich in Massenprotesten fast aller Klassen und Schichten in Tunesien gegen die Regierung zu entladen begannen, halte ich für nicht haltbar, auch wenn das sowohl in der bürgerlichen als auch der alternativen Presse oft so dargestellt wird.

Ich denke, das Gegenteil ist richtig: das Schüren der Aufstände gehörte zu einem verdeckten "kalkuierten Spiel" der Herrschenden der USA. US-Präsident Barack Obama hat bereits im August 2010 seine "Presidential Study Directive 11" erlassen, mit der er sämtliche US-Behörden aufforderte, sich auf anstehende Veränderungen in der MENA-Region einzustellen. Diese Direktive selbst unterliegt zwar noch der Geheimhaltung, doch wurden wesentliche Teile des Inhalts dieser Direktive bereits in der Presse berichtet, so zum Beispiel von zum Establishment gehörenden Insider David Ignatius im Artikel "Obamas Calculated Gamble":

http://www.realclearpolitics.com/articles/2011/03/06/obamas_calculated_gamble_109123.html

In Tunesien ist die Hand der USA und ihres MEPI-Programmes zwar nicht so einfach zu erkennen, dafür ist sie es in Ägypten jedoch umso deutlicher: die als "Facebook-Girl" bekannte Aufruferin zum Aufstand in Ägpten war kurz vor dem Beginn erst mit einem Preis der US-Regime-Change-Organisation "Freedom House" ausgezeichnet worden.

Auch der Aufstand in Libyen war keineswegs spontan, sondern wurde von Frankreich über Monate im voraus geplant, lange bevor der Aufstand in Tunesien begann.

Dass Herrschende in imperialistischen Staaten die Aufstände geplant haben, heißt allerdings noch lange nicht, dass sie, nachdem die Aufstände einmal begonnen waren, immer noch jederzeit Herr der Lage waren. Es war ein kalkuliertes Spiel, und so wie es aussieht, haben sie die Stärke der Muslimbrüder in Ägypten, der Ennahda in Tunesien und der Fatah-Revolutionäre in Libyen völlig unterschätzt.