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BERLIN (21.10.2011) - Die Berliner Regierung verschärft ihren Kurs gegen überlebende NS-Opfer und weist Kompromisse in Entschädigungsfragen entschlossen zurück. Beispielhaft ist das jetzt bekannt gewordene Vorgehen mehrerer Ministerien wegen Forderungen an die Deutsche Bahn AG. Das zu hundert Prozent staatseigene Unternehmen ist Nachfolgerin der "Deutschen Reichsbahn", die für die Deportation von etwa drei Millionen Menschen in die Vernichtungslager verantwortlich ist. Dabei nahm die "Reichsbahn" rund 500 Millionen Euro heutiger Währung ein. Dieser Betrag ist in den Eigentumsfonds der DB AG geflossen und einschließlich Zinsen auf über zwei Milliarden Euro angestiegen. In Absprache mit dem Berliner Verkehrsministerium, dem Finanzministerium und dem Wirtschaftsministerium verweigert die DB AG jegliche Rückzahlung an Überlebende der deutschen Bahndeportationen. Gleichzeitig erhebt die DB AG für das Gedenken an diese NS-Opfer Gebühren. Versuche jüdischer Organisationen, die Führung der DB AG zu einem Verzicht auf Zwangsabgaben für den "Zug der Erinnerung" zu bewegen, sind Ende September gescheitert, heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung des gleichnamigen Vereins. Er ruft zu einer Massenpetition auf. Zu den ergebnislosen Gesprächen, zu denen der größte Landesverband der jüdischen Gemeinden eingeladen hatte, entsandte die DB AG einen berüchtigten Kritiker des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Der langjährige CDU-Politiker Georg Brunnhuber, der die in Düsseldorf gescheiterten Gespräche führte, ist neuer Leiter der Abteilung Wirtschaft und Politik beim DB-Vorstand. Er ersetzt den früheren bayerischen CSU-Wirtschaftsminister Otto Wiesheu, dessen scharfer Kurs gegen das Gedenken an die "Reichsbahn"-Opfer zu seinem 2009 erfolgten Rücktritt beigetragen hat. Einen früheren KZ-Häftling, der auf dem Weg zur Gedenkstätte Auschwitz war, fuhr der spätere DB-Beauftragte Wiesheu 1983 zu Tode und machte den Beifahrer zum Krüppel, als er betrunken und mit überhöhter Geschwindigkeit den Kleinwagen der Opfer rammte.1

Ãœberbordend

Wiesheu-Nachfolger Brunnhuber, den die DB AG Ende September zu den Vermittlungsgesprächen delegierte, trat in Fragen deutscher Gedenkkultur 2007 hervor. Eine skandalöse Ehrenrede für den früheren NS-Marinerichter Filbinger, der Todesurteile über Wehrmachtsdeserteure verhängt hatte, begrüßte Brunnhuber als bedeutend für die "christlich-konservative Seele".2 Weil die Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, an den NS-Tatbeitrag des Geehrten erinnerte ("gewisse und bekannte Zeiten im Leben des Herrn Filbinger" seien in der Rede "unterdrückt" worden), wies Brunnhuber den Zentralrat zurecht: Der Zentralrat betreibe "überbordende Kritik".3

Einlassungen

An der Diskussion um die Duldung des Holocaust-Leugners Williamson (Priesterbruderschaft St. Pius X.) durch Spitzen der katholischen Kirche beteiligte sich Brunnhuber, langjähriger CDU-Landesgruppenchef im Berliner Führungskreis der Regierungspartei, im Jahr 2009. Als die Vorsitzende der CDU, die Bundeskanzlerin Merkel, dem deutschen Papst wegen offenkundiger Zweideutigkeiten und antisemitischer Tendenzen mit vorsichtigem Unverständnis begegnete, erwiderte Brunnhuber: "Viele CDU-Mitglieder halten die Einlassungen der Kanzlerin nicht für richtig".4 "Öffentliche Aufforderungen an den Heiligen Vater führen garantiert ins Leere".

Verschärft

Brunnhubers Wahl zum Wiesheu-Nachfolger und Beauftragten für "Wirtschaft und Politik" beim DB-Vorstand wird im Berliner DB-Tower als "Richtungsentscheidung" bezeichnet, die den rabiaten Expansionskurs des größten europäischen Logistikunternehmens weltweit fortführt und in Fragen der NS-Vergangenheit verschärft. Dabei spielen sich Brunnhuber und die Bundesregierung die Bälle zu, um den aus "Reichsbahn"-Zeiten stammenden NS-Deportationsfonds (zwei Milliarden Euro) vor Ansprüchen der Überlebenden zu sichern. Die "Reichsbahn"-Opfer hatten ihre Verschleppung nach Auschwitz und in die anderen Lager selbst bezahlen müssen.

Arbeitnehmervertreter

Bei Brunnhuber eingehende Forderungen früherer Deportierter5, die insbesondere aus Osteuropa stammen, reicht der DB-Beauftragte an die Bundesregierung weiter, die wiederum erklärt, bei der DB AG handele es sich um eine Aktiengesellschaft, die gegen Eingriffe der Bundesregierung rechtlich geschützt sei. Doch das trifft nur theoretisch zu. Tatsächlich operieren Verkehrsminister Ramsauer (CSU), Finanzminister Schäuble (CDU) und Wirtschaftsminister Rösler (FDP) mit drei Staatssekretären im höchsten DB-Gremium. Als Mitglieder des DB-Aufsichtsrats befolgen diese die Aufträge ihrer amtlichen Herren. Gemeinsam mit insgesamt zehn Vertetern der DB-Arbeiter und -Angestellten könnten sie Vorgaben der Bundesregierung jederzeit umsetzen. Weder ist eine Initiative der Staatssekretäre noch ein gemeinsames Vorgehen der sogenannten Arbeitnehmer im Aufsichtsrat bekannt. Unter ihnen befinden sich hochrangige Mitglieder der deutschen Gewerkschaften.6

Deutsche Exporte

Gemeinsam sind den Aufsichtsratsmitgliedern starke Besorgnisse wegen der in den USA anstehenden Klagen ("class action") und deren Folgen für deutsche Exporte. Die Klagen sollen in New York eingereicht werden und richten sich gegen eine Filiale des DB-Tochterunternehmens Schenker. Sollten die Klagen tatsächlich vor Gericht gebracht und nicht nur angedroht werden, steht die DB vor geldwerten Reputationsverlusten in erheblichem Umfang, noch ehe es zu einer Verhandlung kommt. Ähnliche Erfahrungen hat die französische Staatsbahn SNCF machen müssen, die sich in den USA um milliardenschwere Aufträge für Hochgeschwindigkeitsstrecken bewirbt. Meldungen über die offenkundige Kollaboration der SNCF mit den früheren NS-Dienstellen in Frankreich (die zur gräuschlosen Bahnverschleppung von über 70.000 Menschen nach Auschwitz führte) ließen die Erfolgschancen der französischen Staatsbahn in den USA sinken. Das Unternehmen scheint inzwischen bereit, sich mit überlebenden Deportationsopfern in den USA zu vergleichen.

Massenpetition

Bei ihren Bekenntnissen zur Mitschuld an den Bahndeportationen lässt die SNCF in den USA nicht unerwähnt, dass sie aus der Geschichte gelernt und in Europa den "Zug der Erinnerung" unterstützt habe. Tatsächlich half die Pariser SNCF-Zentrale der deutschen Gedenkintiative mehrmals mit Waggons aus, um die von der DB AG immer wieder boykottierte Ausstellung zu Ehren der "Reichsbahn"-Opfer zu ermöglichen. Auch das frühere staatliche Bahnunternehmen PKP (Warschau) unterstützte den "Zug der Erinnerung" auf seinen europaweiten Fahrten, während der "Reichsbahn"-Nachfolger DB AG Gebühren erhebt. Dabei soll es auch bleiben. Der DB-Beauftragte Brunnhuber teilte jetzt schriftlich mit, eine Änderung der speziellen DB-Gedenkkultur sei definitiv ausgeschlossen. Der "Zug der Erinnerung" ruft deswegen zu einer Massenpetition auf.7


Anmerkungen:
1 Für mich war das ein stehendes Fahrzeug; Der Spiegel 29.10.1984
2, 3 Thierse kritisiert Oettinger-Trauerrede für Filbinger; Deutschlandfunk14.04.2007
4 Unions-Politiker und Bischöfe attakieren Merkel. Der Spiegel, 15.02.2009. S. auch Kreuzritter für Europa
5 s. dazu Verlängerung des Verbrechens, Auf den Tod der Opfer setzen und Fünfundfünfzig Cent
6 Alexander Kirchner, Regina Rusch-Ziemba, Klaus Dieter Hommel
7 Massenpetition gegen DB AG. Pressemittewilung Nr. 04-11. zug-der-erinnerung.eu/presse/pm2.html


 
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