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NEUES THEMA18.07.2024, 02:02 Uhr
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FPeregrin

• Zur Geschichte des #VS #VS
#Verfassungsschutz

Aus gegebenem Anlaß:
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- jW gestern & heute:

Problemfall der Demokratie

Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst, seinem unkontrollierbaren V-Leute-System und seiner Skandalgeschichte (Teil 1)

Von Rolf Gössner

Rolf Gössner ist Publizist und Jurist, Kuratoriumsmitglied der »Internationalen Liga für Menschenrechte« und Mitherausgeber des jährlichen »Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland«. Zuletzt veröffentlichte er den Band: »Datenkraken im öffentlichen Dienst. ›Laudatio‹ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat«, Köln 2021. Internet: Link ...jetzt anmelden!

Prolog in eigener Sache: Genaugenommen müsste ich »befangen« sein, was das Thema »Verfassungsschutz« (VS) anbelangt. Schließlich »verbindet« mich mit diesem Inlandsgeheimdienst skandalöserweise eine über 50jährige Vergangenheit. Das Bundesamt für VS hatte mich vier Jahrzehnte lang unter geheimdienstliche Dauerbeobachtung gestellt, die das Bundesverwaltungsgericht nach 15jährigem Gerichtsverfahren durch alle Instanzen 2020 rechtskräftig für grundrechtswidrig erklärte.

Parallel zu der illegalen Langzeitbe­obachtung habe ich meinerseits drei Jahrzehnte über den VS, seine Arbeit und Skandale recherchiert und publiziert – eine aufwendige Aufklärungsarbeit mit großen Herausforderungen und Risiken, da der Informanten- und Quellenschutz unter Beobachtungsbedingungen kaum noch zu gewährleisten war.

Nun könnte es passieren, dass der folgende Beitrag und vor allem seine Veröffentlichung in der jungen Welt mich erneut ins Visier des VS rücken – wegen »nachdrücklicher Unterstützung« einer als »gesichert linksextremistisch« eingestuften Tageszeitung; und womöglich auch inhaltlich wegen »verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung« des VS als »Sicherheitsorgan« des Staates. Nun ja, ich gehe das Risiko ein, bevor die Schere im Kopf obsiegt … und wünsche allseits erkenntnisreiche Lektüre, besonders auch in den geheimdienstlichen Amtsstuben der Nation.


Der bundesdeutsche Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« befindet sich trotz seines notorisch schlechten Images seit geraumer Zeit wieder im politischen und massenmedialen Aufwind – vor allem wegen seiner verstärkten Fokussierung auf »Rechtsextremismus«, auf AfD und Co. Denn nun trifft es ja endlich die »Richtigen«, wie auch angeblich mit dem neuen, schwer eingrenzbaren Beobachtungsbereich der »verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates«. Doch was davon wirklich zu halten ist und ob damit die erfahrungsgesättigte Kritik an diesem Geheimdienst etwa obsolet geworden ist, davon handelt dieser Beitrag.

Tarnname »Verfassungsschutz«

Nach herrschender Auffassung wird die Bundesrepublik als »wehrhafte Demokratie« definiert. Um die inneren Feinde der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« frühzeitig aufzuspüren, hat sich Westdeutschland – neben anderen Sicherheitsorganen wie polizeilichem Staatsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) als Auslandsgeheimdienst, Militärischem Abschirmdienst (MAD) – gleich zu Beginn der 1950er Jahre einen Inlandsgeheimdienst zugelegt: den sogenannten Verfassungsschutz. Genau genommen lei­stet sich die Bundesrepublik aber nicht nur drei, sondern insgesamt 19 Geheimdienste, denn allein der VS gliedert sich in das Bundesamt und (seit 1990) in 16 Landesbehörden.

Die VS-Behörden sind Institutionen, die offen oder verdeckt Informationen vor allem über »extremistische« und damit »verfassungsfeindliche« Bestrebungen sammeln und auswerten. Als sogenannte Frühwarnsysteme sollen sie Regierungen und Parlamente darüber frühzeitig informieren, in gewissem Maße auch die Öffentlichkeit. »Verfassungsschutz«, das hört sich zunächst ganz gut und sinnvoll an: nach Schutz von Verfassung, Grundrechten und Demokratie. Doch strenggenommen handelt es sich um einen irreführenden Tarnnamen, hinter dem ideologisch geprägte Regierungsgeheimdienste stecken mit geheimen Strukturen, nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden und der Lizenz zu Ausforschung, Infil­tration, Manipulation und Desinformation. Methoden, die gemeinhin als »anrüchig« gelten und die sich trotz spezieller Kontrollmechanismen wirksamer rechtsstaatlich-demo­kratischer Kon­trolle weitgehend entziehen.

Fast könnte man auf die verschwörerisch anmutende Idee kommen, dieser »Etikettenschwindel« sei bewusst betrieben worden, um mit dem Tarn- oder Decknamen »Verfassungsschutz« dessen Geheimdienstcharakter und nachrichtendienstliche Mittel und Methoden zu verschleiern, die er von Gesetzes wegen nicht nur zur Spionageabwehr, sondern auch gegen mutmaßliche »Ex­tremi­sten« oder angebliche »Verfassungsfeinde« anwenden darf – Begriffe übrigens, für die es keine Legaldefinition gibt. Mit verdeckten Mitarbeitern, V-Leuten, Informanten und technischen Instrumenten für Observationen, Lausch- und Spähangriffe kann er unter gewissen Voraussetzungen vollkommen legale, aber politisch verdächtige Gruppen und Parteien infiltrieren und ausforschen, aber auch nichtorganisierte Individuen, und zwar weit im Vorfeld eines möglichen Verdachts oder einer messbaren Gefahr.

Dabei betreibt er im wesentlichen, und das ist sein Markenkern, ideologische Gesinnungskontrolle und beansprucht Definitionsmacht hinsichtlich der Frage, was hierzulande als »ex­tremistisch« im Sinne der (wissenschaftlich) umstrittenen Extremismustheorie zu gelten hat. Insoweit bestimmt dieser politische Geheimdienst faktisch auch über die Grenzen der Meinungsfreiheit und übt wirklichkeits­mächtige Sprachherrschaft aus – mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen: Seine Stigmatisierungen können dazu führen, dass die des »Extremismus« und damit der »Verfassungsfeindlichkeit« verdächtigten Parteien, Gruppen und Personen aus dem Kreis der »Mehrheitsdemokraten« exkommuniziert und aus dem demokratischen Diskurs ausgegrenzt werden – obwohl dies nicht zu seinen legalen Aufgaben gehört. Einen solchen Inlandsgeheimdienst mit der Lizenz zur Gesinnungskontrolle und »hoheitlichen Verrufserklärung«, wie der Politologe Jürgen Seifert die stigmatisierenden Verdikte in den VS-Berichten benennt, gibt es in anderen liberalen Demokratien Westeuropas nicht.


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NEUER BEITRAG18.07.2024, 02:04 Uhr
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Waffe im Kalten Krieg

Seine Ursprünge lassen den VS als ideologisches und, wie Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schreibt, als besonders aggressives Kind des Kalten Krieges erscheinen: Gezüchtet als nachrichtendienstliche Waffe eines militanten Antikommunismus im Ost-West-Konflikt der 1950er Jahre, nicht zuletzt zur staatlichen Absicherung des westdeutschen »Boll­werkes gegen den Kommunismus« im Osten, zur Absicherung der Wiederbewaffnung und der Westintegration der Bundesrepublik. Damals erwarb er sich seine zweifelhaften »Verdienste« bei der systematischen Ausspähung und gesellschaftlichen Ausgrenzung von Kommunisten, anderen Linken und Antifaschist­en aus dem politischen Willensbildungsprozess. Viele von ihnen landeten auch im Gefängnis.

Die tendenziell einseitige Ausrichtung der Geheimdienstarbeit des VS gegen links lag auch daran, dass seine Geschichte selbst gewissermaßen »rechtsextrem« begonnen hatte – nämlich auch mit Altnazis, die schon in der Nazizeit bei Gestapo, SS und Nazijustiz einschlägig tätig waren. Dieses vorbelastete Personal fühlte sich berufen, die neue bundesdeutsche Verfassung zu schützen, und verhinderte konsequenterweise nicht, dass sich andere Ex- und Altnazis im Staatsapparat einnisten konnten – ob in Verwaltung, Polizei oder Justiz. Diese großangelegte Reintegration war seinerzeit offizielle Politik (gemäß Artikel 131 des Grundgesetzes).

Das alles hatte prägende Auswirkungen auf die bundesdeutsche Entwicklung: Denken wir nur an die extensive Kommunistenverfolgung der 1950er/60er Jahre mit Abertausenden Betroffenen oder später an die gegen Linke gerichtete einschüchternde und existenzbedrohende Berufsverbotepolitik der 1970er/80er Jahre, die zu millionenfacher Ausforschung führte und der zahlreiche Menschen mit ihren Lebensentwürfen zum Opfer fielen, sowie an die »bleierne Zeit« des »Deutschen Herbstes« im Laufe des staatlichen Antiterrorkampfs gegen RAF und Co. An all diesen dunklen Kapiteln bundesdeutscher Geschichte war der VS maßgeblich beteiligt.

Eine Skandalgeschichte

Die nunmehr über 70jährige Geschichte des VS lässt sich insgesamt auch als eine Geschichte von Skandalen und Bürgerrechtsverletzungen schreiben: von der Waffenbeschaffung für militante Gruppen, der unheilvollen Verstrickung in den Mord an dem V-Mann Ulrich Schmücker 1974 mit fatalen Auswirkungen auf das Strafverfahren, der Überwachung demokratischer Organisationen und Parteien, die als »extremistisch beeinflusst« galten, sowie politisch-sozialer Bewegungen, wie der Antiatom- und der Friedensbewegung, über skandalöse Sicherheitsüberprüfungen, Bespitzelung von Abgeordneten, Anwälten, Journalisten und Gewerkschaftern – ohne Rücksicht auf Berufsgeheimnisse, Meinungs- und Pressefreiheit –, bis hin zu jenem fingierten Bombenattentat, das als »Celler Loch« in die Geschichte einging, oder bis hin zu Murat Kurnaz, der unter anderem aufgrund von VS-Informa­tionen als angebliches »Sicherheitsrisiko« über vier Jahre lang im US-Foltercamp Guantanamo ein wahres Martyrium erleiden musste. Insgesamt eine endlose Chronik der Skandale, die mit der V-Mann-Affäre im ersten gescheiterten NPD-Parteiver­botsverfah­ren, den Verflechtungen in Naziszenen und im NSU-Umfeld sowie in den NSA-Mas­sen­überwa­chungs­skandal ihre vorläufigen Tiefpunkte fand.

Und nicht zu vergessen: der Skandal um den Expräsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der seine eigene rechtskompatible Agenda verfolgte, Politiker der schon damals stramm rechtsgerichteten AfD in vertraulichen Gesprächen über unveröffentlichte Er­kennt­nisse informierte, sie gar beraten haben soll, wie eine AfD-Be­obach­tung zu vermeiden sei, der rassistische Hetze und Angriffe auf Migranten in Chem­nitz bezweifelte bzw. relativierte, der den Whistleblower Ed­ward Snowden verdächtigte, russischer Spion zu sein, und der mit einer Strafanzeige gegen zwei Jour­nalisten des Internetportals netzpolitik.org Ermittlungen wegen Landesverrats auslöste, die Generalbundesanwalt Harald Range zu Fall und die Pressefreiheit in Gefahr brachten. Nachdem Maaßen 2018 seinen Posten als BfV-Präsident hatte räumen müssen, geriet er 2024 als Vorsitzender der »Werteunion« selbst ins VS-Visier seiner ehemaligen Kollegen – als »Rechtsextremist«!


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NEUER BEITRAG18.07.2024, 02:06 Uhr
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Sinnkrise und neue Legitimation

Zurück in die »Nachwende«-Zeiten. Nach dem Umbruch in Osteuropa, dem Beitritt der DDR und damit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre geriet der VS – nach Wegfall der »kommunistischen Bedrohung« – zunächst in eine tiefe Sinnkrise: Nachdem er selbst diese Entwicklung nicht vorhergesehen hatte (von wegen »Frühwarnsystem«), wurde er recht unvorbereitet um seine altbewährten Feindbilder gebracht. Nach anfänglicher Trauerarbeit, Irritationen und ersten Personalreduzierungen wurde aber wieder kräftig ausgebaut – gen Osten und gesamtdeutsch: Seitdem haben wir 17 VS-Behörden in Bund und Ländern mit insgesamt über 8.000 Bediensteten, einem kleinen Heer von Informanten und V-Leuten. Sowohl Personalbestand als auch Budgets des VS haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark erhöht.

Anstatt nach Ende des Kalten Krieges die dringliche Frage nach der Existenzberechtigung des VS als Geheimorgan zu stellen, wurden seit 1990 immer wieder neue Rechtfertigungen nachgeschoben: Neben den »traditionellen« Aufgabenfeldern »Links-« und »Rechtsextremismus«, »Ausländerextremismus« und Terrorismus sowie Spionageabwehr werden bzw. wurden in manchen Bundesländern organisierte Kriminalität, Wirtschaftsspionage, die Links­partei oder Teile von ihr sowie die Scientologen als Beobachtungsobjekte und Aufgabenbereiche bearbeitet – dann auch Teile der heterogenen politisch-sozialen Bewegungen, inzwischen auch Teile der Klimaschutzbewe­gung, wie etwa »Ende Gelände« (»linksextremistischer Verdachtsfall«).

Nach »9/11« beschäftigten sich alle VS-Behör­den verstärkt mit dem »islamistischen Extremismus« und dem »internationalen Terrorismus«. Alle Geheimdienste erlebten damals einen kräftigen Schub, der immer noch anhält: Sie wurden ausgebaut, bekamen mit den sogenannten Antiterrorgesetzen und mit späteren »Reformgesetzen« neue Aufgaben, Kontroll- und Vernetzungsbefugnis­se, die tief in Grundrechtspositionen von Betroffenen, auch von Unbeteiligten, eingreifen.

Auch der »Rechtsextremismus«, der sich seit Beginn der 1990er Jahre als eine zunehmende Gefahr herausgestellt hatte, konnte vortrefflich als Legitimation für Weiterexistenz und Ausbau des VS und seines V-Leute-Netzes genutzt werden. Zu welchem Desaster dies führte, mussten wir spätestens nach Auffliegen des NSU erfahren. Seit Anfang 2019 kamen Teile der AfD, später die gesamte Partei und ihre Jugendorganisation als Be­obachtungsobjekte hinzu. Seit etwa 2021 gibt es eine neue VS-Beobachtungs­kategorie: die »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. Damit können nun auch Bewegungen, Gruppen, Einzelpersonen und deren Aktivitäten beobachtet werden, wenn sie nicht eindeutig als »links-« oder »rechts­extremistisch« einzustufen sind: so etwa Teile von »Pegida«, der Proteste gegen den Coronaausnah­mezustand bzw. der »Querdenker«-Bewegung sowie »verschwörungsideologische« Szenen. Mit dieser Erweiterung des Beobachtungsspektrums können auch fundierte staats- und regierungskritische Positionen allzuleicht unter Extremismusverdacht geraten.


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NEUER BEITRAG18.07.2024, 02:08 Uhr
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Kriminelle im Dienst des Staates

Trotz intensiverer VS-Bemühungen seit Anfang der 1990er Jahre, extrem rechte, nazi­stische Beobachtungsfelder zu infiltrieren, konnten oder wollten die meisten VS-Behör­den weder die Vermehrung nazistischer Organisationen und Aktivitäten rechtzeitig vorhersagen noch die Zunahme rassistischer Gewalttaten erklären. Und lange Zeit verkannten sie die organisatorischen Qualitäten solcher Gruppierungen und Netzwerke – obwohl es längst starke Ansätze zu Organisierung und Vernetzung gab sowie alarmierende Anzeichen für wachsende Gewaltbereitschaft mit rechtsterroristischen Tendenzen. Nazis konnten sich lange Zeit fast unbehelligt, teils gar staatlich »betreut« und abgeschirmt, entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen – mit über 200 Toten seit 1990.

Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass just im Laufe der 1990er Jahre in Naziszenen und -parteien sich regelrechte Netzwerke aus Informanten, V-Leuten und verdeckten Mitarbeitern entwickelten – was den Kabarettisten Jürgen Becker zu einem bösen Scherz verleitet hat: Bei Naziaufmär­schen sei er sich oftmals nicht mehr ganz so sicher, ob es sich um echte Nazis handelt oder um einen »Betriebsausflug des Verfassungsschutzes«. In dieser kabarettistischen Überspitzung liegt ein wahrer Kern. So soll etwa der Berliner Landesvorstand der NPD so stark durchsetzt gewesen sein, dass der VS mit seinen V-Leuten einen Beschluss hätte herbeiführen können, die NPD in Berlin aufzulösen. Wäre jedenfalls einfacher gewesen als ein kompliziertes Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, das zweimal scheiterte – unter anderem wegen der Gefahr »fehlender Staatsferne« angesichts so vieler V-Leute in der NPD. Jahrzehntelang waren solche, auch in Leitungsfunktionen, landauf, landab fleißig dabei, die NPD zu stabilisieren, zu radikalisieren und auszubauen.

V-Leute – oder auch »menschliche Quellen« genannt – zählen zu den klassischen und zu­gleich wichtigsten Informationsquellen eines Geheimdienstes. Sie werden vom VS nicht selten mit mehr oder weniger Druck und mit weitreichenden Versprechungen rekrutiert. Sie stammen in aller Regel aus der jeweils zu beobachtenden Szene, mit deren Zielen sie sich identifizieren, in der sie einschlägig tätig sind und die sie nun für den VS ausspionieren sollen. Die in Naziszenen rekrutierten V-Leute sind also nicht etwa »Agenten« des demokratischen Rechtsstaats, sondern staatlich alimentierte Aktivisten – zumeist hartgesottene Nazis, gnadenlose Rassisten, nicht selten Gewalttäter, über die sich der VS zwangsläufig in kriminelle Machenschaften und Naziszenen verstrickt. Brandstiftung, Körperverletzung, Totschlag, Mordaufrufe, Waffenhandel, Gründung terroristischer Vereinigungen: Das sind nur einige der Straftaten, die V-Leute im und zum Schutz ihrer Tarnung schon begangen haben.

Nichtkriminelle V-Leute in Naziszenen sind eher die Ausnahme. Denn sie können sich, selbst wenn sie wollten, in einer gewaltbereiten Szene nicht als stille Beobachter betätigen, sonst würden sie als Spitzel auffallen und sich in Gefahr bringen. Mit ihrer Käuflichkeit begeben sich V-Leute zudem in ein fatales Abhängigkeitsverhältnis zum VS, das sie immer wieder »produktiv« macht, um für sich die Vergünstigungen und Honorare zu erhalten, die sie für Informationen beziehen und die bei längeren Engagements schon mal in die Zigtausende gehen.

Lange vor Bekanntwerden der NSU-Mordserie hatte ich, es war im Jahr 2003, solche VS-Verflech­tungen in gewaltbereite Naziszenen in meinem Buch »Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates« (Knaur-Verlag; aktuell 2012 als E-Book) unter anderem anhand geheimer Unterlagen aufgedeckt und als Fallstudien dokumentiert, was dann rund zehn Jahre später so großes Erstaunen und Entsetzen auslöste. Meine damaligen Befunde führten mich dazu, das V-Leute-System der VS-Behörden als teils kriminell, als unkontrollierbar und demokratiewidrig zu kritisieren.

Zur Veranschaulichung dieser V-Leute-Praxis nur ein paar Beispiele aus den vergangenen Jahrzehnten: Erinnert sei an den V-Mann Hans-Dieter Lepzien, der in den 1980er Jahren als Sprengstofflieferant für die Naziszene tätig war und dafür auch verurteilt, allerdings recht bald begnadigt wurde. Erinnert sei an den V-Mann Bernd Schmitt, dessen Kampfsportverein »Hak Pao« Treffpunkt und Trainingscenter der militanten Naziszene in Solingen war. Aus diesem Kreis stammten jene Brandstifter, die eines der schwersten Kapitalverbrechen in der Geschichte der Republik auf dem Gewissen haben: den Solinger Brandanschlag, bei dem 1993 fünf türkische Frauen und Mädchen verbrannt sind. Ein V-Mann des mecklenburg-vor­pommerschen VS ist zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er mit rassistisch eingestellten Jugendlichen einen ausländerfeindlichen Brandanschlag auf eine Pizzeria in Grevesmühlen verübt hatte. Er habe die Tat mit begehen müssen, so rechtfertigte er sich später, um bei seinen Kameraden glaubwürdig zu erscheinen und nicht als Spitzel aufzufliegen; das hat er mir selbst im Gefängnis berichtet, wo ich ihn anlässlich meiner Recherchen aufgesucht hatte. Also Brandstiftung angeblich aus Angst vor Enttarnung. Erinnert sei auch an die V-Leute Toni Stadler und Mirko Hesse in Brandenburg, die die dortige Naziszene mit Musik-CDs versorgten, in denen Volksverhetzung betrieben und zum Mord an Juden, Künstlern und Politikern aufgerufen wurde – alles quasi vor den Augen von VS-Behörden.


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NEUER BEITRAG18.07.2024, 02:10 Uhr
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Behörde abschalten

Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst, seinem unkontrollierbaren V-Leute-System und seiner Skandalgeschichte (Teil 2 und Schluss)

Von Rolf Gössner

Im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex waren der Thüringer VS und andere Geheimdienste mit Dutzenden V-Leuten – u. a. Tino Brandt alias »Otto« – bereits im Nazisammel­becken »Thü­ringer Heimatschutz« involviert, in dem die späteren Mörder organisiert waren und aus dem heraus sich der NSU und sein Unterstützerumfeld quasi unter staatlicher Aufsicht entwickeln konn­ten. Die NSU-Mord­serie hätte womöglich verhindert werden können, wenn der VS seine Erkenntnisse über die Untergetauchten und ihre Unterstützer, an denen seine V-Leute hautnah dran waren, rechtzeitig an die Polizei weitergegeben hätte, wozu er gesetzlich verpflichtet war. Auf der Anklagebank des Oberlandesgerichts München hätten seinerzeit jedenfalls weit mehr Angeklagte sitzen müs­sen als Zschäpe, Wohlleben & Co.: Hier fehlten weitere involvierte V-Leute, deren V- Mann-Führer und alle für Versagen, Unterlassen und Vertuschen Verantwortlichen aus VS, Polizei und Sicherheitspolitik.

Das Erschreckendste, was ich bei meinen eigenen Recherchen erfahren musste, ist, dass der VS seine kriminell gewordenen V-Leute allzu häufig deckt, systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt, ja sogar Belastungsbeweise unterdrückt, um seine Informanten vor Enttarnung zu schützen und weiter langfristig abschöpfen zu können – anstatt sie unverzüglich »abzuschalten«. So hat der VS in so manchen Fällen polizeiliche Fahndungs­maßnahmen torpediert, Akten und Beweise beseitigt, seinen braunen V-Leuten polizeiliche Observationen verraten oder Kontaktpersonen vor Abhör­aktionen gewarnt. Das ist strafbare Strafvereitelung im Amt sowie Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten; doch die Verant­wortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden, selbst wenn durch ihr Verhalten unbeteiligte Personen geschädigt wurden. Im Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschus­ses des Thüringer Landtags wird explizit der naheliegende »Verdacht gezielter Sabotage oder des bewussten Hintertreibens« bei der Suche nach dem flüchtigen NSU-Trio geäußert.

Zusammenfassend muss man feststellen: VS-Behörden haben nicht nur den NSU-Komplex, sondern auch darüber hinaus rechtsextreme Netzwerke, Szenen und Parteien, die sie lediglich beobachten sollten, vielfach über ihre bezahlten Spitzel mitfinanziert, geschützt und gestärkt. Über ihr weitgehend unkontrollierbares V-Leute-System verstrickten sie sich heillos in kriminelle und mörderische Machenschaften. Meine These: Auf diese Weise ist der VS gewissermaßen selbst Teil des Naziproblems geworden, jedenfalls konnte er allzu lange Zeit kaum etwas zu dessen Lösung beitragen. Trotz der hohen Zahl an V-Leuten im Nazispek­trum und NSU-Umfeld haben sich die Erkenntnisse des VS in wesentlichen Bereichen offenbar kaum gesteigert, jedenfalls hat er als »Frühwarnsystem«, das er ja sein soll und sein will, über Jahrzehnte hinweg system- und ideologiebedingt grandios versagt, hat Verfassung, Rechtsstaat und Demokratie dabei mehr geschadet als genützt.


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NEUER BEITRAG18.07.2024, 02:12 Uhr
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Lehrstück in Staatskunde

Zum Schluss und in aller Kürze aus der VS-Skandalchronik noch beispielhaft ein brisantes Lehrstück in Staatskunde – und zwar in eigener Sache: Seit 1970 bin ich, wie eingangs erwähnt, vier Jahrzehnte lang vom Bundesamt für VS beobachtet und ausgeforscht worden – schon als Jurastudent und Gerichtsreferendar, und seitdem fast ein Arbeitsleben lang in all meinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist, Rechts­anwalt, parlamentarischer Berater, später auch als Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (ILMR) sowie als stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof Bremen. Unter solchen Überwachungsbedingungen war an geschützte berufliche Vertrauensverhältnisse, an Mandatsgeheimnis oder Informantenschutz kaum mehr zu denken, war meine Berufsfreiheit mehr als beeinträchtigt.

Einer der abstrusen Vorwürfe des VS lautete: Ich würde mit meiner publizistischen Staats-, Polizei- und Geheimdienstkritik sowie mit meiner »Agitation« gegen KPD-Verbot, Berufsverbote und staatliche Aufrüstungspolitik die Sicherheitsorgane diffamieren und wolle den Staat »wehrlos« machen gegen seine inneren »Feinde« – nicht zuletzt mit meiner Forderung nach Auflösung des VS. Dieser maßte sich damit eine Deutungshoheit über meine Texte an und übte sie in geradezu inquisitorischer Weise aus. Außerdem würde ich »als prominenter Jurist« mit meinen beruflichen und ehrenamtlichen Kontakten auch zu angeblich »linksex­tremi­stischen« bzw. »linksextremistisch beeinflussten« Parteien wie der DKP, Organisationen wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) oder der »Roten Hilfe« und Medien wie der Tageszeitung junge Welt diese »nachdrücklich« in ihren »verfassungsfeindlichen« Zielen »unterstützen«. So konstruierte man aus völlig legalen und legitimen Berufskontakten anlässlich meiner Mandate, Recherchen, Publikationen, Vorträge und Diskussionen etc. eine beobachtungswürdige »Kontaktschuld«.

Gegen diese rekordverdächtige Dauerüberwachung, inquisitorische Gesinnungskontrolle und »Extremismus«-Stigmatisierung reichte ich 2006 Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein wegen schwerwiegender Verletzung meiner Grundrechte auf Meinungs-, Presse- und Berufsfreiheit sowie auf informationelle Selbstbestimmung. Ohne diesen keineswegs einfachen Schritt stünde ich womöglich heute noch unter Beobachtung. Nach einem fünfjährigen Prozess, bei dem das Bundesamt für Verfassungsschutz meine über 2.000seitige Personenakte vorlegen musste – aus »Geheimhaltungsgründen« (»Quellenschutz«, »Ausforschungsgefahr«, »Staatswohl«) allerdings zu fast 80 Prozent geschwärzt – erklärte das Verwaltungsgericht Köln diese Langzeitausforschung 2011 für unverhältnismäßig und grundrechtswidrig. Nach dieser herben Niederlage legte die Bundesregierung prompt Berufung ein. Nach weiteren sieben Jahren erklärte das Oberverwaltungsgericht NRW 2018 die gesamte Beobachtung ebenfalls für grundrechtswidrig, ließ aber »wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache« Revision zum Bundesverwaltungsgericht zu. Und prompt legte die Bundesregierung Revision ein. Nach weiteren zwei Jahren wies das Bundesverwaltungsgericht diese als unbegründet zurück und erklärte die VS-Beobach­tung ebenfalls von Anfang an für rechtswidrig sowie »in handgreiflicher Weise unangemessen« (BVerwG 6 C 11.18 vom 14. Dezember 2020; bverwg.de/141220U6C11.18.0). Diese höchstrichterliche Entscheidung brachte mir endlich Rechtssicherheit und Rehabilitierung. Sie erfolgte nach 15 Verfahrensjahren und insgesamt über einem halben Jahrhundert VS-Drang­salierung. Ohne starken sozialen, kulturellen, politischen, juristischen und gewerkschaftlichen Rückhalt hätte ich diese Überwachungsgeschichte und diese aufwändige Prozedur wohl kaum durchgestanden. Angesichts des immensen staatlichen Ausforschungs- und Verfahrensaufwands: eigentlich ein Fall für den Bundesrechnungshof – wegen Verschwendung öffentlicher Gelder.

Ich empfand es übrigens persönlich mehr als schockierend, mit welcher ideologischen Verbissenheit und Ausdauer dieser Inlandsgeheimdienst, neben vielen anderen linksorientierten Personen und antifaschistischen Gruppen, mich und mein menschenrechtliches Engagement jahrzehntelang beobachtet hatte, während sich zeitgleich Nazis, rechte Gewalt und Terror fast unbehelligt entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen konnten.


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NEUER BEITRAG18.07.2024, 02:14 Uhr
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Unkontrollierbar und skandalgeneigt

Angesichts eines insgesamt niederschmetternden Befunds muss sich die Sicherheitspolitik endlich ernst­haft den zugrundeliegenden Problemen eines vorverlagerten Staatsschutzes, schwer kontrollierbarer Geheimstrukturen und -methoden stellen und geeignete Konsequenzen ziehen. Doch die bisherigen »Reformbemühungen« laufen in eine andere Richtung.

Abschließend eine thesenartige Zusammenstellung der VS-Problematik und möglicher Auswege aus der Misere:

1. Man muss es so klar und deutlich sagen: Gerade in ihrer Ausprägung als Geheimdienste sind die VS-Institutionen von Bund und Ländern Fremdkörper in der Demokratie. Warum? Weil sie zwar Verfassung und Demokratie schützen sollen, doch selbst demokratischen Grundprinzipien der Transparenz und der Kontrollierbarkeit widersprechen. Kein Wunder, dass solche Geheimorgane auch in einem demokratischen Rechtsstaat immer wieder zu Verselbstständigung, Willkür und Machtmissbrauch neigen, wie ihre ellenlange Skandalgeschichte eindrucksvoll belegt. Streng genommen also selbst ein Fall für den Verfassungsschutz, der sich wegen Demokratiedefizits und Grundrechtsbrüchen selbst beobachten müsste.

2. Das Geheimhaltungssy­stem des VS zum Schutz seiner Informanten, V-Leute und Praktiken geht fast über alles – womöglich über Verhütung und Aufklärung von Verbrechen. Die regierungsamtliche Ermittlungsverhinderung und langjährige Aktensperre im Fall Andreas Temme alias »Klein-Adolf« in Hessen sind hierfür einschlägige Beispiele. Der V-Mann-Führer des hessischen VS war während eines NSU-Mordes in Kassel am Tatort, will aber nichts mitbekommen haben. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Verdächtigen wurde eingestellt.

3. Tatsächlich ist es schwer bis unmöglich, VS-Behör­den so wirksam zu kontrollieren, wie das in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Denn das Verdunkelungssystem frisst sich weit hinein in Justiz und Parlamente, die Geheimdienste kontrollieren sollen – und allzu häufig daran scheitern. Die parlamentarische Kontrolle erfolgt systembedingt ihrerseits geheim – und damit wenig demokratisch. Und Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, werden teils zu rechtsstaatlich bedenklichen Ge­heimverfahren, in denen Akten vorenthalten und Zeugen gesperrt werden oder nur mit eingeschränkten Aussagegenehmigungen auftreten dürfen – aus Gründen des »Quellenschutzes«, der »Ausforschungsgefahr« oder des »Staatswohls«.

4. Das bedeutet: Sobald Geheimdienste ihre Finger im Spiel haben, bleiben Aufklärung und Wahrheit immer wieder auf der Strecke. Das zeigte sich besonders deutlich im Zusammenhang mit den parlamentarischen NSU-Untersu­chungsausschüs­sen: Seit Aufdeckung der Mord­serie waren einige VS-Behör­den fleißig damit beschäftigt, die Spuren ihres Ver­sagens, ihrer ideologischen Verblendung und Verflechtungen in das NSU-Umfeld zu verdunkeln, zu schreddern, zu vernichten. Die parlamentarischen Kontrolleure blickten in den Abgrund einer organisierten Verantwortungslosigkeit; entsprechend vernichtend fällt parteiübergreifend ihr Urteil aus: »historisch beispielloses Staats- und Behördenversagen«.

5. Doch ausgerechnet diese Geheimdienste erhalten immer wieder unverdienten Auftrieb. Statt ernst­hafte Konsequenzen aus ihren skandalreichen Karrieren zu ziehen, werden sie weiter personell und finanziell ausgebaut sowie technologisch aufgerüstet. So dürfen sie sich inzwischen auf Bundesebene und in manchen Bundesländern – wenn auch besser reguliert, so doch ganz legal – auch krimineller V-Leute bedienen und diese im Zweifel gegen Ermittlungen der Polizei abschirmen. Auch die »Quellen-TKÜ«, also die Ausforschung von Computern mit heimlich eingeschleusten Staatstrojanern, ist legalisiert (TKÜ ist eine Abkürzung für Telekommunikationsüberwachung, jW). Und die Hürden für die Beobachtung von Einzelpersonen wurden abgesenkt. So unglaublich es klingen mag: Der VS mitsamt seinem kaum kontrollierbaren V-Leute-Sy­stem geht aus seinen Desastern gestärkt hervor.

6. Die VS-Behörden erhalten zudem neuen Auftrieb, insbesondere im Zuge des staatlichen Antiterrorkampfes sowie angesichts der verstärkten Be­obachtung von rechtsextremen Partei­en, Organisationen und Strömungen. Hinsichtlich der disparaten »Querdenker«-Bewegung gegen staatliche Anti-Covid-19-Maßnahmen und anderer politischer Strömungen und Gruppen, die nicht eindeutig als »links- oder rechtsextremistisch« eingestuft werden können, schuf sich der VS ein neues, erweitertes Beobachtungsfeld: die »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. Das bedeutet eine Ausweitung von VS-Aufgaben und nachrichtendienstlichen Befugnissen, eine Stigmatisierung auch berechtigter Kritik am Staat, sobald damit das »Vertrauen in staatliche Institutionen und Repräsentanten« angeblich »nachhaltig beschädigt« werde. Letztlich eine gefährliche Bedrohung staatskritischer freier Meinungsäußerung und Medienarbeit.

7. Und hinsichtlich der AfD, die bundesweit als »rechtsextremistischer Verdachtsfall« eingestuft wird, und hinsichtlich der AfD-Jugend »Junge Alternative« und dreier AfD-Landes­verbände (Brandenburg, Sachsen, Thüringen), die inzwischen als »gesichert rechtsextrem« gelten und unter nachrichtendienstlicher Beobachtung stehen: Was soll bei deren heimlicher Ausforschung eigentlich herauskommen – außer personeller Verflechtungen und staatlich mitfinanzierter Radikalisierungsprozesse durch angeworbene und bezahlte V-Leute des VS? Reicht es nicht, Hetztiraden, menschenverachtende Äußerungen und Aktionen von AfD-Ver­tre­tern zu dokumentieren und zivilgesellschaftlich – wo nötig: auch strafrechtlich angemessen – darauf zu reagieren? An verstärkter politischer Auseinandersetzung mit dieser Partei und deren Wählern führt ohnehin kein geheimdienstlicher Schleichweg vorbei – genausowenig an einem überfälligen Politikwechsel in Richtung sozialer Gerechtigkeit, sozialer Sicherheit und Frieden, der womöglich auch AfD, Pegida & Co. das Fahrwasser abgraben könnte.

8. Letztlich wird sich grundsätzlich nur dann etwas ändern, wenn sich die Sicherheitspolitik an das VS-Geheimsystem wagt und die geheimdienstliche Überwachung legaler politischer Oppositions- und Protestgruppen beendet wird. Das heißt: Den VS-Behör­den sollte die Lizenz zur heimlichen Gesinnungskontrolle, zum verdeckten Führen von V-Leuten und Infiltrieren von politischen Szenen und Gruppen aus bereits genannten Gründen prinzipiell versagt werden. Dieser Forderung steht nicht etwa das Grundgesetz entgegen und auch keine Landesverfassung. Denn danach muss der VS keineswegs als Geheimdienst ausge­staltet sein. Deshalb sollten die VS-Behörden als ideologisch geprägte, intransparente, kontrollresistente und demokratiewidrige Inlandsgeheimdienste sozialverträglich aufgelöst werden, wie es namhafte Bürgerrechtsorganisation – darunter die Humanistische Union (HU) und die ILMR in ihrem Memorandum »Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein!« (Berlin/Norderstedt 2013) – längst gefordert und ausführlich begründet haben.

9. Unabhängige, gut ausgestattete und öffentlich kontrollierbare Dokumentations- und Forschungszentren würden etwa die Rechtsentwicklung oder andere Gefährdungen von Demokratie und Verfassung ohne gefährliche Methoden erforschen können, dafür mit weit besseren diagnostisch-analytischen Fähigkeiten. Über die gewonnenen Erkenntnisse könnten Regierungen und Öffentlichkeit umfassend informiert und aufgeklärt werden. Auf dieser Grundlage könnten Politik und Zivilgesellschaft Prävention betreiben. Im Fall von Gewaltorientierung, konkreten Gefahren und straf­baren Handlungen sind ohnehin Polizei und Justiz zuständig. Damit wäre dann auch der geradezu irrsinnige Widerspruch gelöst, mit demokratieunverträg­lichen Geheimdiensten Demokratie und Verfassung schützen zu wollen. Im übrigen gilt ohnehin: »Was die deutsche Demokratie heute ist, wurde sie nicht wegen, sondern trotz des Verfassungsschutzes« (Claus Leggewie/Horst Meier, Berlin 2019).


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NEUER BEITRAG18.07.2024, 02:18 Uhr
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FPeregrin

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Epilog

Dieser Beitrag beruht im Kern auf Artikeln, Expertisen und Vorträgen, die der Autor in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Er konzentriert sich auf die strukturellen und methodischen Vorgaben und Probleme des VS, die er einer grundsätzlichen Kritik unterzieht, sowie auf die daraus resultierende VS-Skandalgeschichte. Deshalb wird er leider all jenen Verfassungsschützern nicht gerecht, die trotz oder gar in Opposition zu dieser grundsätzlichen Bürde versuchen, ihren Auftrag angemessen und grundrechtskonform zu erfüllen. Zudem fehlen in dem Text auch mögliche positive Leistungen und »Erfolge« des VS, die jedoch – das ist das systembedingte Los dieses Geheimdienstes – schon aus Geheimhaltungsgründen vielfach weitgehend im Verborgenen bleiben müssen – zu Lasten von Nachweisbarkeit und Glaubwürdigkeit.

Literaturhinweise
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Mathias Brodkorb: Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien, Springe 2024

Hajo Funke: Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU. Das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss, Hamburg 2018

Rolf Gössner: Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes. Neonazis im Dienst des Staates, München 2003. Aktualisierte Neuauflage als E-Book beim Knaur-Verlag, München 2012; Direktlink: droemer-knaur.de/autor/rolf-goessner-3000215

Humanistische Union/Internationale Liga für Menschenrechte/Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen (Hg.): Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! Memorandum. Erarbeitet von Rolf Gössner, Johann-Albrecht Haupt, Udo Kauß, Till Müller-Heidelberg und Thomas von Zabern, Berlin/Norderstedt 2013; Direktlink: humanistische-union.de/publikationen/hu-schriften/publikatio-
n/brauchen-wir-den-verfassungsschutz/

Cornelia Kerth/Martin Kutscha (Hg.): Was heiß hier eigentlich Verfassungsschutz? Ein Geheimdienst und seine Praxis, Köln 2020

Claus Leggewie/Horst Meier: Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Zweite, aktualisierte Auflage, Berlin 2019

Heribert Prantl: Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz? Eine Anklage, München 2012

Bodo Ramelow (Hg.): Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen, Köln 2013

Ronen Steinke: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht, Berlin/München 2023

Rolf Gössner ist Publizist und Jurist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (ILMR) und Mitherausgeber des jährlichen »Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland«. Zuletzt veröffentlichte er den Band »Datenkraken im öffentlichen Dienst. ›Laudatio‹ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat«, Köln 2021. Internet: rolf-goessner.de.


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