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NEUES THEMA29.10.2022, 13:08 Uhr
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FPeregrin

• 90 J. BVG-Streik jW heute:

Zement in die Weiche

Futter für die antikommunistische Legendenbildung: Vor 90 Jahren streikten in Berlin die BVG-Arbeiter gegen Lohnabbau und Notverordnungsregime

Von Leo Schwarz

Vom Streik bei der Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft (BVG) im November 1932 haben oft auch Leute schon einmal gehört, die ansonsten gar nichts von der Arbeiterbewegung wissen. Sozialdemokratische und konservative Historiker haben diesen Ausstand – oder besser: eine verdrehte Erzählung über ihn – arbeitsteilig zu einem Baustein jener Geschichtslegende gemacht, laut der Kommunisten und Nazis mehr oder weniger gemeinsam gegen die »Weimarer Demokratie« angerannt sind – der wesentliche Merksatz ist hier, dass KPD und NSDAP »zusammen« diesen Streik organisiert haben.

Die Bedeutung des Berliner Verkehrsarbeiterstreiks liegt woanders: Er ist ein klassisches Beispiel dafür, wie schnell ein Lohnkampf an die Schwelle des politischen Streiks geraten kann, und er belegt anschaulich die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Hier liegt auch ein Grund, warum insbesondere sozialdemokratische Historiker, die diese Streikfähigkeit in der Phase der Errichtung der faschistischen Diktatur prinzipiell leugnen, um den Kapitulationskurs der SPD und der Gewerkschaften als letztlich »alternativlos« zu rechtfertigen, mit ausgesuchter Bösartigkeit gerade über diesen Streik geschrieben haben. Für konservative Autoren war der Streik als Gegenstand dagegen immer wieder vor allem deshalb interessant, weil sich hier bei hinreichender Zurichtung des Materials Futter für die Totalitarismusideologie beschaffen ließ.

Streikwelle im Herbst

In Berlin wies die amtliche Statistik im Herbst 1932 rund 630.000 Erwerbslose aus. Die Belegschaften in vielen Betrieben waren dennoch bereit, auch unter diesen extrem ungünstigen Bedingungen zu kämpfen. Nach den Notverordnungen der Regierung Papen vom September, die Unternehmen unter anderem das Recht einräumten, Tariflöhne zu unterschreiten, entwickelte sich eine regelrechte Welle von Abwehr- und Demonstrationsstreiks, die bis in den Dezember hinein anhielt. Der BVG-Streik, der bis heute oft fälschlich als singuläres Ereignis erinnert wird, war ein Teil dieser Welle von insgesamt über 1.000 kleineren und größeren Streiks.

Die BVG mit ihren mehr als 21.000 Beschäftigten war das größte Unternehmen, das in diesen Monaten bestreikt wurde. Die Gesellschaft, die in Berlin Busse, Straßenbahnen und die U-Bahn betrieb, war der größte kommunale Verkehrsbetrieb Europas. Sie war in gewisser Weise auch ein »sozialdemokratischer« Betrieb: Unter der Regie des SPD-Verkehrsstadtrats Ernst Reuter entstanden, waren in der Leitungsebene bis 1933 rechte Sozialdemokraten stark vertreten. Im Herbst 1932 wollte die Direktion mit der zuständigen ADGB-Gewerkschaft, dem Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs, zu Vereinbarungen über Lohnkürzungen, Mehrarbeit und Entlassungen kommen.

Löhne und Arbeitsbedingungen waren bei der BVG bereits zuvor mehrmals verschlechtert worden. In vielen Bereichen war das Arbeitsentgelt um ein Drittel oder sogar mehr abgesenkt worden; der monatliche Durchschnittslohn sank von 220 auf 160 Mark. Gleichzeitig wurde insbesondere in den Werkstätten die »Antreiberei« mit der Stoppuhr forciert. In dieser Situation stimmte die Führung des Gesamtverbandes, dem etwa 6.000 BVG-Beschäftigte angehörten, einem weiteren Lohnabbau um zwei Pfennig pro Stunde zu.

Die KPD hatte bei der BVG mehrere Betriebszellen mit zusammen 290 Mitgliedern. Die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO), die faktische kommunistische Richtungsgewerkschaft, hatte rund 1.100 (nach anderen Angaben 1.500) Mitglieder. Das war eine ziemlich starke Position. Seit September versuchten die Kommunisten, die Belegschaft auf die Abwehr eines weiteren Lohnabbaus vorzubereiten. Bei mehreren Betriebsversammlungen, die der von Sozialdemokraten dominierte Betriebsrat am 24. Oktober einberief, zeigte sich durchweg eine starke Entrüstung über den Gesamtverband; der Betriebsrat reagierte darauf mit der Ansetzung einer Urabstimmung für den 2. November – um, wie der Vorsitzende erklärte, der RGO »das Maul zu stopfen«. Der Vorwärts frohlockte am Tag der Abstimmung, diese werde zeigen, welchen Rückhalt die »Schreier« in der BVG-Belegschaft hätten.

Es gab jedoch lange Gesichter bei der SPD: Von den 18.537 Beschäftigten, die sich beteiligten, stimmten 14.571, also 79 Prozent, für die Ablehnung des Lohnabbaus und für einen Streik. Am Abend des 2. November erklärte eine Konferenz der gewerkschaftlichen Obleute mit Verweis auf die (überwiegend kranken oder beurlaubten) Kollegen, die nicht abgestimmt hatten, dass die nötige Dreiviertelmehrheit für den Streik nicht zustande gekommen sei. Das war ein weiterer taktischer Fehler der Gewerkschaftsbürokratie; sie verlor vorübergehend ihren Einfluss auf die Belegschaft.

Eine Delegiertenkonferenz der BVG-Arbeiter beschloss noch an diesem Abend den Streik für den nächsten Tag. Sie bildete eine Streikleitung, der neben Unorganisierten und Mitgliedern der RGO auch 16 Mitglieder des Gesamtverbandes und zwei Mitglieder der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) angehörten. Die Bildung dieser Streikleitung war ein Versuch der Kommunisten, die gesamte Belegschaft in eine Streikaktion gegen die Lohnabbaupolitik und das Notverordnungsregime zu führen. Der Streikaufruf wurde am Morgen des 3. November, einem Donnerstag, uneingeschränkt befolgt. Keine Straßenbahn, kein Bus, keine U-Bahn fuhr.

Um den Streik zu illegalisieren, erging noch am 3. November der verbindliche Schiedsspruch eines Schlichters, der den Lohnabbau festschrieb. Der Gesamtverband rief seine Mitglieder umgehend auf, wieder zur Arbeit zu erscheinen. Dennoch dauerte der Streik an. Am 4. und 5. November gelang es der BVG, einzelne Straßenbahnen und Busse unter Polizeischutz in den Einsatz zu bringen. Zehntausende Arbeiter beteiligten sich an zum Teil gewaltsamen Versuchen, diesen Streikbruch zu unterbinden – kleinere Barrikaden wurden errichtet, Oberleitungen heruntergerissen, Straßenbahnwagen umgekippt, Weichen mit Zement ausgegossen. Drei Arbeiter wurden erschossen. Am 5. November wurde eine Verhandlungsdelegation der Streikleitung verhaftet. Die gesamte kommunistische Presse in der Hauptstadt wurde verboten; liberale, konservative und sozialdemokratische Blätter ergingen sich in einer wilden Hetze gegen den Streik. Reichskanzler Papen kündigte in einer Rundfunkrede die »Ausrottung des streikhetzerischen Bolschewismus« an.

Die Rolle der Nazis

Die NSDAP geriet durch den Streik unmittelbar vor der für den 6. November angesetzten Reichstagswahl in eine schwierige Lage. Weder die Berliner NSDAP noch die Funktionäre der NSBO hatten sich an dessen Vorbereitung beteiligt; aktiv involviert waren lediglich NSBO-Mitglieder im Betrieb, die keine Lust verspürten, sich gegen den Mehrheitswillen der Belegschaft zu stellen.

Die NSDAP hatte ihre Mitglieder und Anhänger in der Vergangenheit bei nahezu jeder Gelegenheit zum Streikbruch angehalten. Nun billigte die Berliner Gauleitung – von Hitler gedeckt – den Streik. Sie tat das aus dem gleichen Grund, aus dem sie 1930 bereits den großen Metallarbeiterstreik »unterstützt« hatte: Sie befürchtete, dass sich bei einer offenen Stellungnahme gegen den Streik die Teile der Arbeiterklasse, auf die sie Einfluss gewonnen hatte, wieder von der Partei abwenden würden. Hitler, von Hindenburg zur Rede gestellt, sagte dazu: »Wenn ich meine Leute von der Beteiligung abgehalten hätte, hätte der Streik doch stattgefunden, aber ich hätte meine Anhänger in der Arbeiterschaft verloren. Das wäre auch kein Vorteil für Deutschland.«

Hinter den Kulissen taten Funktionäre von NSDAP und NSBO, was ihnen möglich war, um die Streikfront zu desorganisieren und insbesondere eine Ausdehnung des Streiks auf andere Betriebe zu verhindern. Am 5. November wurden die NSBO-Vertreter aus der zentralen Streikleitung abgezogen. Der Angriff, das Berliner Naziblatt, handelte den Streik überwiegend auf den hinteren Seiten ab und brachte keine Nachrichten der Streikleitung. Die Nazis »wollten am dritten Tag des Streiks, dass die BVG-Arbeiter bedingungslos in die Betriebe zurückgehen und sich dem Dekret der Regierung fügen«, betonte später ein naher Beobachter, der Wirtschaftsjournalist Günter Reimann. Die immer wieder behauptete »Zusammenarbeit« von KPD und NSDAP bei diesem Streik ist eine Lüge, deren Zählebigkeit nicht durch Fakten, sondern allein durch die Nützlichkeit erklärbar ist, die sie für gewisse Geschichtserzählungen hat.

Die Streikbruchbemühungen einerseits und die staatliche Repression – die Streikposten wurden nach und nach verhaftet, Streiklokale besetzt – andererseits führten am 7. November dazu, dass etwa die Hälfte der BVG-Belegschaft wieder zur Arbeit erschien. Die Streikleitung musste unter diesen Umständen den Ausstand abbrechen; etwa 2.500 BVG-Arbeiter wurden anschließend entlassen.

Zwei Mitglieder der Streikleitung, Albert Kayser und Otto Schmirgal, bezahlten später ihren Widerstand gegen die Nazidiktatur mit dem Leben. Die am ehemaligen BVG-Direktionsgebäude in der heutigen Rosa-Luxemburg-Straße angebrachte Gedenktafel für die beiden wurde irgendwann nach 1990 entfernt und bis heute nicht ersetzt.


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NEUER BEITRAG18.11.2022, 23:50 Uhr
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FPeregrin

90 J. BVG-Streik Hierzu auch ein Artikel Fünf Tage, die Berlin erschütterten und die Querfrontlüge in der aktuellen KAZ:
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, der auch noc einmal zeigt, wohin man mit einer strategisch falsch bestimmten #Querfront-These hingerät. Das Wort Querfront selbst rettet uns noch nicht vor dem Ausverkauf proletarischer Interessen an den Faschismus, ... es kann schnell das Gegenteil der Fall sein!
• PDF-Datei KAZ - Fünf Tage, die Berlin erschütt...
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