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NEUDt. Imp. an der inneren Nahost-Front
  [4 pics,2 files] begonnen von FPeregrin am 19.05.2022  | 176 Antworten
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NEUER BEITRAG12.01.2025, 10:55 Uhr
EDIT: arktika
12.01.2025, 10:57 Uhr
Nutzer / in
arktika

Dt. Imp. an der inneren Nahost-Front Mal wieder was zum Kampf an den Universitäten:

Ein Interview mit Jule Kettelhoit - Mitglied der Initiative »Talking about Palestine« an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main (die mal wieder Räume verweigert hat) - in der aktuellen WE-Ausgabe der jW. Das Interview führt Jamal Iqrith.

Palästina an den Universitäten

»Statt Forschung gibt es noch mehr Polizeipräsenz«

Frankfurt am Main: Konferenz zu Palästina im Wissenschaftsbetrieb. Universität verweigert kurzfristig Räume. Ein Gespräch mit Jule Kettelhoit


Sie organisieren für die kommende Woche in Frankfurt am Main eine Konferenz zum Thema Palästina. Worum genau soll es bei der Veranstaltung gehen?

Es handelt sich um eine wissenschaftliche Konferenz, die vom 16. bis 17. Januar stattfindet. Sie wird von Studierenden und Wissenschaftlern organisiert und verfolgt das Ziel, Räume zu eröffnen, um über aktuelle Forschung zu Palästina im Kontext des Völkermords in Gaza und Repressionen gegen diese zu reden.

Anders als beispielsweise der Palästina-Kongress, der vergangenes Jahr in Berlin stattfand, setzen Sie auf einen akademischen Charakter. Warum?

Wir sind als Lehrende, Forschende und Studierende Teil des wissenschaftlichen Betriebes und halten eine Auseinandersetzung mit Menschenrechtsverletzungen und den systematischen Grundlagen von Unterdrückung und Völkermord für unabdingbar. Jedoch sind insbesondere deutsche Universitäten zunehmend von einem Klima der Einschüchterung gekennzeichnet. Statt sich mit den empirischen Tatsachen der israelischen Besatzung zu befassen, wird der Diskurs über die Situation in Palästina mit einer Instrumentalisierung des Vorwurfs von Antisemitismus unterbunden.

Eine Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung der Palästinenser und eine davon getragene Forschung zu den Verbrechen und der strukturellen Gewalt des Staates Israel fehlt größtenteils in der deutschen universitären Landschaft. Statt dessen wächst die Polizeipräsenz auf dem Campus. Wir sind der Meinung, dass die Universität ein Ort des kritischen Denkens und Diskurses sein muss.

Welche Rolle spielt die Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit Palästina in Deutschland?

Ähnlich wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen steht auch die Wissenschaft in Deutschland vor großen Herausforderungen, wenn es um Palästina geht. Beispiele wie die sogenannte Fördergeldaffäre rund um die ehemalige FDP-Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger oder die öffentlichen Diffamierungen von Wissenschaftlern durch die Springer-Presse zeigen, wie stark akademische Diskurse eingeschränkt werden. Das ist besonders alarmierend, da in einer bürgerlichen Demokratie Wissenschaftsfreiheit normalerweise einen hohen Stellenwert hat.

Die zunehmenden Einschränkungen in diesem Bereich zeigen den Rückgang demokratischer Rechte und die Dringlichkeit, diesem entgegenzuwirken. Zudem pflegen viele deutsche Universitäten Partnerschaften mit israelischen Institutionen und rechtfertigen unter anderem durch Forschung und Kooperationen militärische Strategien, die zur Zerstörung Gazas beitragen.

Welche Themen stehen bei der Konferenz im Mittelpunkt?

Wir haben internationale Gäste eingeladen, die unterschiedliche Ansätze und Themenbereiche abdecken. Im Mittelpunkt stehen Fragen der epistemischen Gewalt und des »Scholasticide«, also der gezielten Zerstörung von Wissens- und Bildungssystemen, sowie der Dekolonisierung.

Der Palästina-Kongress in Berlin wurde von der Polizei gestürmt und verboten. Befürchten Sie ähnliches in Frankfurt?

Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Deutschen das militärische Vorgehen Israels im Gazastreifen ablehnt. Der deutsche Staat fürchtet, dass Millionen von Menschen die sogenannte Staatsräson hinterfragen und für die Rechte der Palästinenser sogar auf die Straße gehen könnten. Deswegen unternimmt die herrschende Klasse alles in ihrer Macht Stehende, um Solidarität mit Palästinensern und selbst Positionen gegen Genozid zu kriminalisieren. Wir wissen aktuell nicht, zu welchen Schritten der Staatsapparat in Frankfurt bereit sein wird. Die vergangenen 14 Monate heftiger Repressionen und Kriminalisierung der Bewegung gegen den Völkermord an den Palästinensern zeigen, dass es Bereitschaft zu autoritären Maßnahmen gibt.

Gab es aus der Stadtgesellschaft Kritik an der Veranstaltung?

Bisher nur vereinzelt. Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker (ehemaliger Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, DIG, jW) hat versucht, die Konferenz zu diffamieren. Die Goethe-Universität hat uns kurzfristig Räume verweigert, was die Organisation der Veranstaltung erschwert hat. Abgesehen davon haben wir überwiegend positive Rückmeldungen erhalten. Insbesondere aus der Zivilgesellschaft und von Wissenschaftlern gab es Zuspruch.


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NEUER BEITRAG12.01.2025, 15:10 Uhr
EDIT: arktika
12.01.2025, 15:16 Uhr
Nutzer / in
arktika

Daß - wenn auch leider nur selten! - Unileitungen durchaus auch anders reagieren können, zeigt sich sehr schön am Beispiel einer Berliner Uni. S. dazu den Thread Israel, Palästina + die Solidarität im Forum bzw. Unterforum "Klasse & Kampf >> Solidarität!" am 12.01.2025 um14:49 Uhr:
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NEUER BEITRAG12.01.2025, 18:58 Uhr
EDIT: FPeregrin
12.01.2025, 19:06 Uhr
Nutzer / in
FPeregrin

Dt. Imp. an der inneren Nahost-Front nd heute:

Nahost: »Ohne Wiedergutmachung werden die Gräuel weitergehen«

Rachel Beitarie von der israelischen NGO Zochrot kritisiert den Förderstopp
des Auswärtigen Amtes

Interview: Susanne Hentschel 12.01.2025, 13:07 Uhr Lesedauer: 6 Min.
Rachel Beitarie leitet die israelische NGO Zochrot, die sich seit 2002 dafür einsetzt, in der jüdischen Öffentlichkeit Israels die Verantwortlichkeit für die Nakba, also die Vertreibung der Palästinenser seit 1948, und die Umsetzung des Rechts auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge zu fördern. Beitarie hat einen Bachelor of Law der Universität Tel Aviv und ist als feministische politische Aktivistin tätig. Sie ist Mitbegründerin von PSee, einer unabhängigen feministischen Medienorganisation und arbeitete als Medienkoordinatorin bei Gisha – Legal Center for Freedom of Movement. Davor berichtete sie als Journalistin aus Peking über Menschenrechte und Politik in China. Rachel lebt derzeit in Jaffa.

Die deutsche Finanzierung ihres Projekts Zochrot wurde gestrichen. Hat Sie das überrascht?

Nicht wirklich. Jetzt gibt es viel Empörung und auch ein großes Medieninteresse, das schätze ich. Was mich aber irritiert, ist, dass die palästinensischen Organisationen, denen schon vor längerer Zeit das Geld gestrichen wurde, kaum Beachtung finden. Hier zeigt sich die Ungleichbehandlung in der öffentlichen Debatte. Auch Al-Haq, einer palästinensischen Menschenrechtsorganisation, wurden die Mittel gestrichen – und das, obwohl alle Vorwürfe der israelischen Regierung gegen Al-Haq von Deutschland selbst und der EU zurückgewiesen wurden. Dieser Prozess läuft also schon lange. Überrascht war ich also nicht.

Deutschland rühmt sich selbst oft als Erinnerungsweltmeister, dreht nun aber den Geldhahn für ein Projekt zu, das genau der Erinnerung dient. Wie blicken Sie auf diese Gleichzeitigkeit?

Damit wird die Wiedergutmachung von der Erinnerung getrennt. Es kann aber kein Erinnern ohne Konsequenzen, ohne Aufarbeitung und Entschädigung geben. Ich weiß, dass viele Deutsche sehr stolz auf ihre Gedenkprojekte sind, und sie sind in der Tat sehr beeindruckend. Aber sie sind entstanden, nachdem das Regime, das die Verbrechen begangen hat, beseitigt wurde, nachdem wesentliche Schritte in Richtung Entschädigung, juristische Aufarbeitung und Veränderungen im Bildungssystem getan wurden. Lasst uns also darüber sprechen, wie Wiedergutmachung aussehen sollte. Wir von Zochrot sagen, die Wiedergutmachung heißt, dass alle Vertriebenen und Geflohenen zurückkehren können – aber darüber lässt sich streiten. Die Streichung der Mittel verhindert genau diese Diskussion.

Wie wurde der Förderstopp vom Auswärtigen Amt begründet?

Uns gegenüber gar nicht. Wir haben die Nachricht über unsere Partnerorganisation Kurve Wustrow erhalten. Eine offizielle Begründung gab es nicht. Dass das Auswärtige Amt die Finanzierung überdenkt, wussten wir allerdings schon seit Anfang letzten Jahres.

Als Zochrot arbeiten Sie zur Nakba, der systematischen Vertreibung der Palästinenser*innen im Zuge der Staatsgründung 1948, und zum Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge. Warum ist das Erinnern solch ein heikles Thema?

Man hat uns immer wieder gesagt: Gedenken ist schön und gut, aber nur so lange es nichts Grundlegendes verändert. Deshalb werden wir gerade für unseren Einsatz für das Recht auf Rückkehr angegriffen. Für mich ist das ein grundlegendes Menschenrecht. Menschen, die durch einen Krieg vertrieben werden, haben das Recht zurückzukehren. Es ist auch ein zentraler Bestandteil des palästinensischen Kampfes für Freiheit und Unabhängigkeit und war Thema aller Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israelis. Man muss nicht mit mir oder Zochrot darin übereinstimmen, dass das Recht auf Rückkehr für alle Palästinenser*innen, die zurückkehren wollen, umgesetzt wird, aber wir sollten es zumindest diskutieren. Ich verstehe, warum es den Leuten Angst macht, denn es wird Israel verändern – zum Besseren, wie ich glaube.

Das Gedenken an die Nakba und das Recht auf Rückkehr gehören also zusammen?

Es ist absurd, wie manche Menschen der Nakba gedenken, doch nicht in Anerkennung der systematischen Gewalt, sondern aus reinem Mitgefühl mit den Opfern. Natürlich ist es ehrenwert, Mitgefühl zu haben. Aber es waren politische Handlungen, die die heutige Realität geschaffen haben. Der Gazastreifen ist eine Schöpfung der Nakba, er entstand zeitgleich mit dem Staat Israel. Er wurde vom restlichen Palästina abgetrennt, eingezäunt und mit palästinensischen Vertriebenen aus anderen Orten gefüllt, die ethnisch gesäubert wurden, aus Jaffa, aus Lod, aus Be’er Scheva. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in Gaza sind Flüchtlinge und deren Nachkommen. Diese Tatsachen müssen wir anerkennen, um überhaupt zu verstehen, was in all den Jahren in Gaza geschehen ist: Bombardierung, Belagerung und jetzt Völkermord. Wer das nicht versteht, ist natürlich überrascht, dass dieser historische Prozess zu Gewalt führt, dass er dazu beiträgt, dass eine militante Organisation wie die Hamas entsteht.

Hat der 7. Oktober und der Krieg gegen Gaza die Erinnerung an die Nakba verändert?

In den Jahren vor dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober wurde der Konflikt innerhalb des Peacecamps zunehmend als Folge der Nakba von 1948 und nicht nur der Besatzung von 1967 anerkannt. Natürlich war der 7. Oktober ein großer Schock. Menschen, die vorher offen für Veränderung waren, wollen Worte wie »Frieden«, »Palästinenser« oder Menschenrechte nun nicht mehr hören. Unsere Stimme wird heute mehr denn je an den Rand gedrängt und die israelische Gesellschaft ist stark nach rechts gerückt. Das müssen wir wieder ändern, ohne zum Status quo vor dem 7. Oktober zurückzukehren. Ohne Wiedergutmachung werden die Gräuel weitergehen.

Vor uns liegen schwierige Zeiten. Umso wichtiger ist es, eine Vision von einem Leben in Sicherheit und Verbundenheit zu entwickeln, gemeinsam und nicht auf Kosten der anderen. Es gibt nicht entweder Israel oder Palästina, nicht entweder jüdisch oder arabisch. Jeder gehört hierher. Dieser Weg ist nach diesem schrecklichen Jahr und all den Verbrechen noch viel schwieriger als davor. Doch wir haben auch schon an anderen Orten gesehen, dass Versöhnung möglich ist.

Sie haben jüngst gesagt, dass die Räume für zivilgesellschaftliche Organisationen immer kleiner werden. Trifft die Repression Israelis und Palästinenser*innen gleichermaßen?

Die Repression ist zwar flächendeckend, aber sie trifft Palästinenser*innen ungleich stärker als jüdische Israelis. Das ist die Struktur des Apartheidregimes. Unter dieser Regierung ist die Repression gegen Palästinenser*innen zwar extrem, aber es gab sie unter allen israelischen Regierungen. Organisationen im Westjordanland wurden des Terrorismus beschuldigt und gänzlich verboten. Einer israelisch-jüdischen Organisation ist das noch nicht passiert – aber man weiß ja nie. Aber auch individuell: Israelische Aktivist*innen erleben Polizeigewalt nur, wenn sie auf eine Demo gehen. Palästinenser*innen dagegen wurden seit Oktober 2023 zu Hunderten grundlos verhaftet.

Kam der Druck für den Förderstopp ursprünglich von der israelischen oder der deutschen Regierung?

Ich habe keine Ahnung. Das müssen Sie die deutsche Regierung selbst fragen. Was ich seltsam finde, ist, dass sie selbst, genau wie viele andere EU-Regierungen, im Laufe der letzten Jahre ihre Besorgnis über den schrumpfenden demokratischen Raum in Israel geäußert hat. Es stimmt, dass der Staat immer repressiver wird. Aber mit der Einstellung dieser Förderung trägt Deutschland selbst dazu bei, dass unser demokratischer Raum in Israel schrumpft. Die deutschen Beamten vermittelten uns immer wieder, dass es für Deutschland aufgrund der eigenen Geschichte wichtig sei, an der Seite Israels zu stehen. Doch bedeutet das, für die Sicherheit und das Wohl aller Menschen in Israel einzustehen, von denen 20 Prozent Palästinenser*innen sind und sich viele, wie ich, gegen die Regierung stellen? Oder bedeutet es die Unterstützung für die Politik der israelischen Regierung, egal welche Verbrechen sie begeht? Deutschland entscheidet sich ganz klar für die zweite Option.


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P.S.: Naja, es ist ja wohl eher der dt. Imp. an der äußeren Nahost-Front. Daher auch noch mal da:
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NEUER BEITRAG16.01.2025, 16:07 Uhr
Nutzer / in
FPeregrin

Hierzu das nd gestern:

»Unis sind keine sterilen Orte fernab der Gesellschaft«

Die Organisierenden der Frankfurter Konferenz »Talking about (the Silencing of) Palestine« im Interview

Interview: Max Freitag

Das Planungskomitee der Konferenz »Talking about (the Silencing of) Pales­tine« besteht laut eigenen Angaben aus Studierenden und studentischen Aktivist*innen, wissenschaftlichen Mit­arbei­ter*in­nen und Professor*innen aus Frank­furt am Main und ganz Deutschland. Die Konfe­renz wird in Partner­schaft mit dem Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« organisiert. Das Programm ist auf talkingpalestine.de einzusehen.

Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker bezeichnete Ihre Konferenz als »Wanderzirkus bekannter Israel-Hasser«; die Goethe-Universität verweigert Ihnen Räume. Hängt das miteinander zusammen?

Die Hetze gegen die akademische Konferenz »Talking about (the Silencing of) Palestine« begann durch eine Pressemitteilung Beckers vom 7. Januar. Wenige Minuten davor wurden uns die Räumlichkeiten von der Goethe-Uni entzogen. Dass es eine koordinierte Vorabsprache gab, liegt nahe. Becker verbreitete nicht nur die falsche Behauptung, eine der Moderator*innen habe »große Teile des Programms bestimmt«, sondern diskreditierte die gesamte Konferenz mit Antisemitismusvorwürfen. Wir überprüfen ebenfalls die Falschdarstellung der Raumanfrage durch das Präsidium und die Behauptung, die Anfrage wäre von der antragstellenden Professorin zurückgezogen worden. Auch eine Einflussnahme prozionistischer Personen in der Senatssitzung vom 18. Dezember 2024 steht im Raum. Statt mit den Organisierenden ins Gespräch zu treten, wird mit der »FAZ« gesprochen. Damit diskreditiert die Uni-Leitung nicht nur ihre eigene Diskursfähigkeit, sondern schadet auch dem Image der Goethe-Uni als Ort der Wissenschaftsfreiheit.

Sie vermuten andere Motive hinter der Verweigerung?

Die Aussagen der Uni gegenüber der »FAZ« lassen darauf schließen, dass hinter der Ablehnung des Antrags, codiert als »Rückzug« der Antragstellenden selbst, politische Motive stehen. Der Ton ihres Statements knüpft an die Rhetorik Beckers an. Ohne Begründung negieren sie den wissenschaftlichen Charakter der Konferenz. Palästina und Palästinenser*innen, also die Thematik der Konferenz, werden in keinem Nebensatz erwähnt. Zwischen den Zeilen wird unmissverständlich deutlich, was die Uni-Leitung als akzeptablen akademischen Diskurs zählt und was nicht.

Warum haben Sie überhaupt auf die Uni als Austragungsort gesetzt?

Die Uni sollte ein Ort sein, wo Fragen gestellt, Wissen produziert und revidiert werden kann, ohne Angst vor Zensur. Inzwischen ist klar, dass die Goethe-Uni hingegen auf undemokratischen und autoritären Strukturen fußt. Kritische Aufklärung und Geschichtsaufarbeitung werden von hegemonialen Interessen und bürokratischen Hürden verdeckt. Der andauernde Genozid in Gaza liefert offenbar nicht genug Anlass, kritische und offene Diskurse zu führen. Die Verstrickung von Unis in die Normalisierung von Gewalt gegen Palästinenser*innen durch den einseitigen oder verunmöglichten Diskurs macht es notwendig, diese Debatten auch dort auszutragen. Unis sind keine sterilen Orte fernab der Gesellschaft.

In ihrer Pressemitteilung vom 13. Januar bekennt sich die Hochschule zur Freiheit von Forschung und Lehre, kritisiert aber, dass die Veranstalter*innen »zwischen Aktivismus und wissenschaftlicher Arbeit nicht trennscharf unterscheiden«. Teilen Sie diese Auffassung?

Die Konferenz ist ein Zusammenschluss aus Wissenschaftler*innen, Student*innen und Aktivist*innen. Ein Blick in das Programm reicht aus, um die akademische Tragweite der Veranstaltung zu verstehen. Es geht etwa um epistemische Diskurse zu Silencing, die wissenschaftliche Kontextualisierung von Rassismus und Antisemitismus, Völkerrecht, Genozid-Prozesse und Weiteres. Wissenschaft und Aktivismus sind nicht deckungsgleich. Viele Wissenschaftler*innen haben aber den Anspruch, mit ihrer Arbeit gegenwartsbezogene und relevante Forschung zu betreiben. Sich Palästina zu widmen, eben weil es hochaktuell und gesellschaftlich zutiefst relevant ist, eint sie weltweit mit einer großen Anzahl von Menschen über unterschiedliche Professionen hinweg.

In den Medien stand die Teilnahme der Aktivistin Hebh Jamal im Zentrum der Kritik, da diese als Hamas-Sympathisantin gelte. Wie gehen Sie mit diesen Anschuldigungen um?

Die Moderatorin hat sich bis heute weder positiv noch negativ auf die Hamas bezogen. Sie ist seit mehreren Monaten äußerster Vulnerabilität ausgesetzt, weil ihre Familie direkt vom Genozid in Gaza betroffen ist. Zu erwarten, dass sie sich in einer solchen Situation zur Hamas positioniert, ehe sie sprechen darf, ist rassistisch. Sie hat in einem Video auch gegen Beckers Diffamierungen Stellung bezogen. Wir prüfen aktuell, ob wir juristisch gegen ihn vorgehen.

Die Konferenz wird jetzt in alternativen Räumlichkeiten stattfinden. Was erwartet die Teilnehmenden inhaltlich?

Wir haben international renommierte Forscher*innen eingeladen, etwa aus der Genozid- und Holocaust-Forschung sowie aus den Bereichen der Politikwissenschaften, der Rechts- und der Kulturwissenschaften. Zentrale Forschungsfragen befassen sich unter anderem mit Fragen der kritischen Geschichtsschreibung und epistemischer Gewalt in und um Palästina, der Kontextualisierung und Instrumentalisierung von Antisemitismus und Rassismus, mit Praktiken des Widerstands sowie der Bedeutung von Wissenschaftsproduktion und sozialen Bewegungen für die Ausweitung demokratischer Rechte und Gleichheit für alle. Darüber hinaus finden auch Workshops zu Themen wie Film, Kunst, dekolonialer Queer-Feminismus oder auch der internationalen Protestbewegung statt.


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NEUER BEITRAG26.01.2025, 19:38 Uhr
EDIT: FPeregrin
26.01.2025, 22:34 Uhr
Nutzer / in
FPeregrin

Dt. Imp. an der inneren Nahost-Front Ich würde gerne einige Fragezeichen an verschieden Stellen des hier dokumentierten Interviews setzen; vieles ist mir zu kurz usw. Z.B. ist Deutschland eigentlich noch immer keine 'Nation', weil die Bourgeoisie sich vor diesem demokratische Risiko immer wegdrücken konnte. Und in der DDR war (!) die 'Nation' ein demokratisches Produkt der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten. Vor diesem Hintergrund bleibt der Antisemitismus in Deutschland, ein spezielles Problem (NB auch Frankophobie und Slavophobie, so unauffällig sie z.Z. auch sein mögen), das Enzo Traverso mit allgemein Richtigem nicht ohne weiteres in den Griff kriegen kann. Dennoch hat er an vielen Stellen unbedingt Recht: "Viele Menschen (besonders in Deutschland) denken, dass das Sprechen vom Völkermord in Gaza bedeutet, den Holocaust zu »relativieren«. Das ist beschämend. Die Erinnerung an einen Völkermord zu beanspruchen, um einen anderen Völkermord zu rechtfertigen, ist moralisch und politisch inakzeptabel." Und: "Wir können den Palästinensern nicht sagen: Es tut uns leid, aber wir können nicht gegen die Gewalt und Unterdrückung, die ihr erleidet, handeln, weil dies der Vorwand sein könnte, um ein altes antisemitisches Stereotyp wiederzubeleben. Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht unvereinbar mit dem Kampf gegen die koloniale Unterdrückung Palästinas." Insbesondere: "Wenn Europäer, insbesondere Deutsche, das Gefühl haben, ihre Pflicht sei es, Israel bedingungslos zu verteidigen, um Antisemitismus und Rassismus zu bekämpfen, könnte die Schlussfolgerung vieler Menschen sein, dass Antisemitismus gar nicht so schlimm ist." Und: "Heute ist die palästinensische Sache zentral für alle, die sich für die Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit einsetzen, auch wenn diese Sache weder mit der Hamas noch mit der völlig diskreditierten Palästinensischen Autonomiebehörde gleichgesetzt werden kann."

Weil es Teil einer Annäherung an das Feld dt. Imp & Palästina ist, sei es also hier gespiegelt, das Interview mit Enzo Traverso auf Jacobin gestern:

»Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht unvereinbar mit dem Kampf gegen die koloniale Unterdrückung Palästinas«

Das Gedenken an den Holocaust werde instrumentalisiert um eine einseitige, nationalistische Erinnungspolitik zu rechtfertigen, kritisiert der Historiker Enzo Traverso. Im Gespräch mit JACOBIN skizziert er, wie eine universalistische Erinnerungspolitik aussehen könnte.


Interview mit Enzo Traverso geführt von Elias Feroz

Nach über 15 Monaten hat der Krieg im Gazastreifen, der als Reaktion auf den Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 begann, zumindest eine erste Pause erreicht, der hoffentlich in den kommenden Monaten ein dauerhafter Waffenstillstand folgen wird. Das Ausmaß der Zerstörung in Gaza ist beispiellos: Laut einem aktuellen Bericht des britischen Guardian wurden fast 50.000 Gazaner – ungefähr 2 Prozent der Bevölkerung – getötet, über 100.000 weitere sind verwundet, viele mit schweren Verletzungen. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung wurden vertrieben, und die meisten haben keinen Ort, an den sie zurückkehren können, da fast zwei Drittel der Gebäude beschädigt oder zerstört sind.

Seit Beginn des Krieges stechen zwei Länder besonders deutlich mit ihrer unerschütterlichen Unterstützung für Israel hervor: die USA, Israels ältester und größter finanzieller Unterstützer, und die Bundesrepublik Deutschland. Deutschlands Weigerung, seine militärische Unterstützung für ein Land einzustellen, das von vielen glaubwürdigen internationalen Beobachtern des Völkermords beschuldigt wird, hat Millionen Menschen im Land und weltweit dazu veranlasst, sich zu fragen, ob die deutsche Aufarbeitung seiner eigenen dunklen Vergangenheit so gründlich und bedeutsam war, wie bisher angenommen.

Enzo Traverso, ein Historiker der modernen und zeitgenössischen Geschichte Europas, ist bekannt für seine Forschung zu zentralen Themen wie Krieg, Faschismus, Völkermord, Revolution und kollektives Gedächtnis. Sein neuestes Werk Gaza im Auge der Geschichte untersucht den Krieg in Gaza als Schnittpunkt kolonialer Vermächtnisse und humanitärer Krisen. In dem Buch kritisiert er auch die Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens – insbesondere durch Deutschland – und diskutiert dessen Wandel von einer universellen Lehre gegen Unterdrückung hin zu einer Erzählung, die zur Rechtfertigung eines aktuellen Völkermords genutzt wird. Mit JACOBIN spricht er über das Verhalten des deutschen Staates seit Beginn des Krieges in Gaza und über die Lehren, die er für die Entwicklung einer wirklich universalistischen und internationalistischen Erinnerungspolitik zieht.


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NEUER BEITRAG26.01.2025, 19:42 Uhr
Nutzer / in
FPeregrin

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Die deutsche Regierung betont häufig ihr Engagement für das Völkerrecht, erkennt jedoch selten Verstöße gegen das Völkerrecht gegenüber Palästinensern an, obwohl zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International darüber berichten. Wie erklären Sie diese Ambivalenz?

Die Reaktion der deutschen Regierung auf den Krieg und den Genozid in Gaza ist nicht völlig überraschend. Sie steht im Einklang mit den Erinnerungspolitiken, die Deutschland seit vielen Jahren verfolgt. In diesem Zusammenhang erweist sich die Gaza-Krise als aufschlussreicher Test, der eine besorgniserregende Verschiebung im Umgang mit der Holocaust-Erinnerung in Deutschland offenbart und die beispielhafte Arbeit untergräbt, die Deutschland über Jahrzehnte bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit geleistet hat. Ich sage dies nicht als distanzierter Beobachter, sondern als Italiener – als jemand aus einem Land, das es versäumt hat, seine faschistische und koloniale Vergangenheit vollständig anzuerkennen oder Verantwortung dafür zu übernehmen. Als Italiener habe ich oft nach Deutschland geblickt – nicht unbedingt als perfektes Modell, sondern als ein Land, das es geschafft hat, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, wie es meinem eigenen Land nicht gelungen ist.

Mitte der 1980er Jahre begann Deutschland einen schwierigen und schmerzhaften Prozess des Umdenkens seiner Vergangenheit. Für mindestens zwei Generationen wurde die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten zu einem Eckpfeiler des deutschen historischen Bewusstseins, und ich betrachtete dies als einen enormen Fortschritt. Deutschland schaffte es, sein Konzept von Staatsbürgerschaft neu zu definieren und von einer Identität, die rein auf ethnischen Wurzeln basierte, zu einer politischen Gemeinschaft überzugehen, die alle Bürgerinnen und Bürger einschließt, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft oder ihren Überzeugungen. Dieser bemerkenswerte Fortschritt wurde maßgeblich, wenn nicht sogar in erster Linie, durch die Arbeit an der Holocaust-Erinnerung ermöglicht.

Im Laufe der Zeit hat sich die Holocaust-Erinnerung in Deutschland jedoch schrittweise in eine Politik der bedingungslosen Unterstützung für Israel verwandelt. Was einst ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der Geschichte war, ist zu einem Rahmen geworden, der meiner Ansicht nach dazu beiträgt, kritische Perspektiven auszublenden. Dadurch werden Handlungen ermöglicht, die den Prinzipien von Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit, die diese Erinnerung eigentlich bewahren sollte, widersprechen. Das beklagenswerte Ergebnis dieses Prozesses ist, dass heute das Völkerrecht übertreten oder ignoriert werden kann, um Israel bedingungslos zu unterstützen.

Wann, denken Sie, hat dieser Wandel stattgefunden?

In vielerlei Hinsicht waren diese Prämissen bereits bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 präsent. Ich glaube, dieser Wandel vollzog sich schrittweise, da die Samen für einen solchen Wandel von Anfang an in der Holocaust-Erinnerung angelegt waren. Einige der darin enthaltenen Widersprüche lassen sich auf Momente wie Habermas' Kritik an Ernst Nolte zurückführen, wo er argumentierte, dass die Integration Deutschlands in den Westen durch die Erinnerung an Auschwitz erreicht wurde. Diese Ausrichtung der Holocaust-Erinnerung auf westliche Werte legte die Grundlage für Deutschlands unerschütterliche Unterstützung für Israel.

Diese Unterschiede waren in den 1950er Jahren, während der Diskussionen über die Wiedergutmachungsgesetze zur Entschädigung der jüdischen Opfer des Nazi-Regimes, nicht sehr offensichtlich, aber die zugrunde liegenden Prämissen waren bereits vorhanden. Im Moment des historischen Wendepunkts bestand die Konfrontation zwischen einem Deutschland, das versuchte, den Holocaust und die Nazi-Verbrechen als Eckpfeiler des deutschen historischen Bewusstseins anzuerkennen, und einem anderen Deutschland, das eindeutig einen apologetischen Ansatz zur Nazi-Vergangenheit favorisierte. In diesem Kontext wird klar, dass Habermas unterstützt werden muss, insbesondere gegen Nolte und den deutschen Revisionismus.

Viele Jahre lang schienen diese Gefahren relativ eingedämmt zu sein und im Vergleich zu den bedeutenden Fortschritten, die Deutschland bei der Förderung demokratischer Rechte gemacht hatte, als marginal. Jetzt jedoch befinden wir uns in einer paradoxen Situation. Deutschland, das sich zu einer multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Nation entwickelt hat, verlangt von allen seinen Bürgern, einschließlich denen mit postkolonialer und palästinensischer Herkunft, bedingungslose Unterstützung für Israel. Diese Entwicklung könnte als ein auffallend ironisches Ergebnis der früheren Ausrichtung der Holocaust-Erinnerung auf die westliche Identität gesehen werden.


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NEUER BEITRAG26.01.2025, 19:46 Uhr
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FPeregrin

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Ende letzten Jahres äußerte Deutschland Zweifel daran, ob es den Haftbefehl des IStGH gegen Netanyahu vollstrecken würde, falls er das Land besuchen sollte. Wie spiegelt diese Zögerlichkeit die Spannung zwischen Deutschlands historischer Verantwortung für den Holocaust und seinem Engagement für das Völkerrecht wider?

Ich glaube, dass das Nachkriegsdeutschland, wie viele andere europäische Länder, eine Erinnerung an den Holocaust und die Nazi-Verbrechen entwickelte, die oft die notwendige Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte vernachlässigte oder marginalisierte. Der Fokus auf den Holocaust, obwohl wichtig, hat die Erinnerung an den Kolonialismus überschattet oder minimiert, wodurch eine Spannung entstand, die nach dem 7. Oktober deutlicher wurde. Diese »aporetische« Erinnerungspolitik ist die Grundlage dafür, die koloniale Dimension der israelischen Besatzung von Gaza und dem Westjordanland zu ignorieren. Im deutschen und westeuropäischen Diskurs wird Netanyahu als Vertreter der Juden als Opfer dargestellt. Daher sind Palästinenser kein enteignetes Volk, sondern eine neue Verkörperung des Antisemitismus. Dies ist das Argument hinter der deutschen Entscheidung (der andere westliche Führer folgten), den Haftbefehl des IStGH nicht umzusetzen.

Birgt das Ignorieren des Haftbefehls des IStGH ein Risiko für Reputationsschäden oder sogar rechtliche Konsequenzen für diese Länder, insbesondere angesichts des zunehmenden Drucks auf die Einhaltung des Völkerrechts?

Nun, ich bin kein Rechtsexperte, aber was ich sagen kann, ist, dass Deutschland nach den Vereinigten Staaten, die die Hauptfinanz- und Militärhilfe für Israel leisten, der zweitwichtigste militärische Unterstützer Israels ist. Ohne die Unterstützung der USA hätte Israel die Zerstörung in Gaza und das Töten von Zehntausenden von Palästinensern nicht durchführen können. Aber nach den USA spielt Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung militärischer Unterstützung für Israel.

Das bedeutet, dass Deutschland heute am Völkermord in Gaza mitschuldig ist, genauso wie Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich. Deutschlands Beteiligung ist jedoch besonders bedeutsam, sowohl in Bezug auf seine Rolle als auch auf sein symbolisches Gewicht. Aus der Sicht des Großteils der Weltbevölkerung bedeutet dies, dass die Erinnerung an den Holocaust zu einem politischen Werkzeug kolonialer Politik geworden ist: Während die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden müssen, kann palästinensisches Leben ausgelöscht werden.

Das bedeutet, dass Deutschland heute am Völkermord in Gaza mitschuldig ist, genauso wie Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich. Deutschlands Beteiligung ist jedoch besonders bedeutsam, sowohl in Bezug auf seine Rolle als auch auf sein symbolisches Gewicht. Aus der Sicht des Großteils der Weltbevölkerung bedeutet dies, dass die Erinnerung an den Holocaust zu einem politischen Werkzeug kolonialer Politik geworden ist: Während die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden müssen, kann palästinensisches Leben ausgelöscht werden.

Als italienischer Historiker, der in den Vereinigten Staaten lehrt, wie denken Sie, beeinflusst Deutschlands unerschütterliche Unterstützung für Israel, die durch seine »Staatsräson« geprägt ist, das internationale Image des Landes?

Zunächst einmal denke ich, dass das internationale Image Israels unwiderruflich verändert wurde. Für die öffentliche Meinung im sogenannten Globalen Süden hat Israel lange Zeit Unterdrückung, Kolonialismus und jetzt auch Völkermord symbolisiert. Dieses Bild hat sich auch im Westen gewandelt. Es gibt jetzt eine klare Diskrepanz zwischen der offiziellen Haltung des westlichen politischen Establishments und dem wachsenden öffentlichen Skeptizismus gegenüber der Politik der bedingungslosen Unterstützung Israels.

Deutschland hat auf eine gewisse Weise die Heuchelei seiner offiziellen Position anerkannt, indem es diese als eine Frage der »Staatsräson« darstellt. Der Begriff der Staatsräson ist hochgradig ambivalent. In meinem Essay habe ich ihre Genealogie von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart nachgezeichnet. Staatsräson offenbart einen Widerspruch im Rechtsstaat: Das Gesetz kann aufgrund einer übergeordneten Pflicht – der Staatsräson – hinterfragt, verweigert oder überschritten werden. In diesem Fall ist diese Pflicht die bedingungslose Verteidigung Israels, selbst wenn Israel offensichtlich Kriegsverbrechen oder Völkermord begeht. Die implizite Bedeutung: Ja, Israel begeht Kriegsverbrechen, unterdrückt die Palästinenser und verübt wahrscheinlich einen Völkermord, aber wir akzeptieren dies im Namen eines übergeordneten Staatsinteresses.


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NEUER BEITRAG26.01.2025, 19:49 Uhr
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FPeregrin

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Welche Auswirkungen haben die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre auf die Zukunft der Erinnerungspolitik, sowohl in Deutschland als auch allgemein?

Was heute in Gaza passiert, zwingt uns, unseren Ansatz der Erinnerungspolitik neu zu überdenken. Wir müssen ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen den verschiedenen Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses formulieren. Das meinte ich vorhin. Wir müssen nicht nur die Erinnerung an den Faschismus, die Nazi-Verbrechen und den Holocaust einbeziehen, sondern auch die Erinnerung an Imperialismus und Kolonialismus, die ebenfalls kritische Aspekte der europäischen Vergangenheit sind. Wir können es uns nicht leisten, uns ausschließlich auf einen Aspekt des kollektiven Gedächtnisses zu konzentrieren und die anderen zu vernachlässigen.

Dies ist besonders wichtig, da die Europäische Union zu einem Raum der Immigration geworden ist. Millionen von Immigranten, die meisten von ihnen mit postkolonialer Herkunft, sind jetzt Teil Europas. Dies gilt für alle europäischen Länder, einschließlich Italien, das historisch ein Auswanderungsland war, aber auch seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland ist. Unsere Erinnerungspolitiken waren in vielen Fällen einfach ein Korollar zur Rhetorik der Menschenrechte und dienten oft als Rechtfertigung für imperialistische und neokoloniale Politiken. Es ist Zeit, damit Schluss zu machen.

Muss das Konzept der »historischen Schuld« überdacht werden, da es oft zu Verallgemeinerungen und einem Mangel an Nuancen führt?

Das Konzept der historischen Schuld ist wertvoll, wenn es kontextualisiert wird. Es gibt keine ewige, unveränderliche, transhistorische Schuld.

Wir könnten auf die berühmte Debatte verweisen, die 1945 in Deutschland nach der Veröffentlichung von Karl Jaspers Essay Die Deutsche Schuldfrage stattgefunden hat. Jaspers unterschied zwischen verschiedenen Arten von Schuld: krimineller Schuld, politischer Schuld, moralischer Schuld und metaphysischer Schuld. Das Konzept der Schuld muss nuanciert, überdacht und neu definiert werden.

Statt von historischer Schuld würde ich von historischer Verantwortung sprechen. Ich wurde mehr als 20 Jahre nach dem von italienischem Faschismus im Jahr 1935/36 verübten äthiopischen Völkermord geboren. Ich bin nicht schuld an diesem faschistischen Völkermord, aber ich denke, ich wäre schuldig, wenn ich als italienischer Staatsbürger die Vergangenheit meines Landes ignorieren und mich weigern würde, die historischen Verantwortlichkeiten, die damit verbunden sind, zu übernehmen. Als verantwortungsbewusster italienischer Staatsbürger kann ich die Verbrechen, die zur Geschichte meines Landes gehören, nicht ignorieren.

In diesem Sinne ist das Verhältnis zwischen Schuld und Verantwortung ein dialektisches. Es gibt eine historische Verantwortung, die verantwortungsbewusste Außenpolitiken leiten sollte. Eine verantwortungsbewusste Außenpolitik heute würde bedeuten, in erster Linie den Völkermord in Gaza zu stoppen.


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NEUER BEITRAG26.01.2025, 19:52 Uhr
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FPeregrin

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Sie kritisieren die Gleichsetzung von Palästinensern mit Nationalsozialisten, ein häufiges Vorkommen in einigen Teilen des deutschen politischen und medialen Establishments, als historischen Revisionismus. Doch in Ihrem Buch erwähnen Sie, dass einige Aktionen der IDF Sie an die der SS erinnern. Sind solche Beschreibungen nicht kontraproduktiv und verstärken gerade den Knoten zwischen Erinnerung und Geschichte, den Sie zu entwirren versuchen?

Ich schreibe in meinem Buch, dass der Begriff des Völkermords ein juristischer Begriff ist. Es handelt sich um ein legalistisches Konzept. Ich betone auch, dass ich als Historiker manchmal viele Zweifel habe und Vorsicht walten lassen muss, bevor ich diesen Begriff verwende, da er nicht zu den Sozialwissenschaften oder zur historischen Forschung gehört.

Es gibt eine normative Definition von Völkermord, die eine legalistische, juristische Definition ist. Ich glaube, diese Definition entspricht perfekt der Situation in Gaza heute. Völkermorde sind jedoch nicht alle gleich oder austauschbar. Gaza ist nicht Auschwitz – in Bezug auf Maßstab, Motivation, Phänomenologie usw. – das ist offensichtlich und sehr klar. Viele Menschen (besonders in Deutschland) denken, dass das Sprechen vom Völkermord in Gaza bedeutet, den Holocaust zu »relativieren«. Das ist beschämend. Die Erinnerung an einen Völkermord zu beanspruchen, um einen anderen Völkermord zu rechtfertigen, ist moralisch und politisch inakzeptabel. Die Erinnerung an Auschwitz sollte mobilisiert werden, um neue Völkermorde zu verhindern, nicht um sie zu rechtfertigen.

Historische Vergleiche sind keine historischen Homologien; sie sind Analogien, die uns helfen, die Gegenwart zu interpretieren. Natürlich können die Bilder nicht nur der SS, sondern auch der Wehrmachtssoldaten, die während des Zweiten Weltkriegs an der Ostfront Verbrechen begingen, mit den Kriegsverbrechen verglichen werden, die heute von der IDF in Gaza und im Westjordanland begangen werden. Es gibt Hunderte von Videos, die israelische Soldaten zeigen, wie sie neben den Leichen palästinensischer Opfer oder beim gezielten Angriff auf Zivilisten lächeln. Diese Bilder erinnern an die Bilder des Krieges und der völkermörderischen Verbrechen, die von deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, von italienischen Soldaten in Äthiopien, auf dem Balkan und in Griechenland sowie von der französischen Armee in Algerien in den späten fünfziger Jahren.

Ich glaube, dass diese Vergleiche die phänomenologischen Ähnlichkeiten, die in allen kolonialen und faschistischen imperialen Verbrechen bestehen, eindeutig hervorheben. Es ist entscheidend, diese Vergleiche zu ziehen, weil sie als Warnung dienen, und diese Warnung ist heilsam.

Einige könnten argumentieren, dass Ihre historischen Vergleiche anstößig sind, insbesondere angesichts der Betonung der Einzigartigkeit der Gräueltaten des Holocausts. Wie würden Sie auf Kritiker reagieren, die Ihre Vergleiche unangemessen oder problematisch finden?

Wir müssen hier ganz klar sein: Ich vergleiche Gaza nicht mit dem Holocaust. Ich behaupte nicht, dass das, was heute in Gaza passiert, eine Wiederholung des Holocausts ist. Ich sage einfach, dass das, was heute in Gaza passiert, ein Völkermord ist.

Der Holocaust war ein Völkermord. Die Vernichtung der Armenier war ein Völkermord. Auch die Vernichtung der Herero war ein Völkermord. Völkermorde können sich in ihrer Phänomenologie, den Mitteln der Zerstörung und den betroffenen Bevölkerungsgruppen stark unterscheiden. Natürlich müssen wir die Existenz antisemitischer Stereotype anerkennen, die behaupten, dass Juden sich immer als Opfer dargestellt haben und jetzt genau wie die Nazis handeln. Dies ist ein typisches antisemitisches sowie ein apologetisches Argument. Der Völkermord in Gaza zum Beispiel wird oft verwendet, um den Nationalsozialismus und die Verbrechen der Nazis zu trivialisieren. Wir müssen eine solche Demagogie ablehnen.

Wir können jedoch den Völkermord in Gaza nicht zensieren oder übersehen, nur weil wir diese Art von Reaktion fürchten. Das ist inakzeptabel. Wir können den Palästinensern nicht sagen: Es tut uns leid, aber wir können nicht gegen die Gewalt und Unterdrückung, die ihr erleidet, handeln, weil dies der Vorwand sein könnte, um ein altes antisemitisches Stereotyp wiederzubeleben. Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht unvereinbar mit dem Kampf gegen die koloniale Unterdrückung Palästinas.

Israel ist Teil der internationalen Gemeinschaft und muss nach den gleichen politischen und rechtlichen Kriterien beurteilt werden, die auf alle Staaten und Mitglieder dieser Gemeinschaft angewendet werden. Wenn wir dies nicht tun, riskieren wir, eine perverse Situation zu schaffen, in der Antisemitismus indirekt legitimiert wird. Wenn Europäer, insbesondere Deutsche, das Gefühl haben, ihre Pflicht sei es, Israel bedingungslos zu verteidigen, um Antisemitismus und Rassismus zu bekämpfen, könnte die Schlussfolgerung vieler Menschen sein, dass Antisemitismus gar nicht so schlimm ist. Wenn die Kritik an Israels Handlungen in Gaza als Antisemitismus bezeichnet wird, wäre die logische Konsequenz, dass man, um einen Völkermord zu stoppen, antisemitisch sein muss.

Die Prämisse hinter dem gesamten Diskurs, Israel bedingungslos zu unterstützen, unabhängig von den Umständen, ist völlig irrational. Dies ist das Ergebnis einer seltsamen Idee, die die ontologische Unschuld Israels postuliert. Früher erklärte ein antisemitisches Vorurteil, dass die Juden von Natur aus schädlich seien, nicht wegen ihres Verhaltens, sondern einfach wegen ihrer Existenz; heute gibt es einen ähnlich törichten und unverantwortlichen Diskurs, der vorgibt, dass die Juden von Natur aus unschuldig oder vorteilhaft sind: Sie sind Opfer und können keine Täter werden. Dies ist die umgekehrte Version eines alten obscurantistischen Vorurteils.


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NEUER BEITRAG26.01.2025, 19:55 Uhr
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FPeregrin

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Sie argumentieren, dass die Palästinenser den Preis für Europas historische Schuld gegenüber den Juden zahlen. Wie wirkt sich diese Dynamik auf die moralische Stellung Europas heute aus, und was zeigt sie über die Kontinuität — oder das Versagen — seiner ethischen Verpflichtungen?

Ich habe mehrere Essays geschrieben, in denen ich versuche zu erklären, dass die relevanteste und beträchtlichste Form des Rassismus in Europa heute nicht mehr Antisemitismus ist, sondern vielmehr Islamophobie. In Italien kommt die Regierungschefin, Giorgia Meloni, aus einer postfaschistischen Bewegung. Bevor sie Premierministerin wurde, war sie stolz auf ihre politischen Wurzeln in dieser Tradition, die auch das faschistische Regime umfasst, das 1938 antisemitische Gesetze erließ. Ähnlich verhält es sich in Frankreich, wo Marine Le Pen ein antisemitisches politisches Erbe repräsentiert.

Heute jedoch fördern Bewegungen wie die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) keinen offenen Antisemitismus in ihrer offiziellen Rhetorik, und sie pflegen starke Beziehungen zu Israel. Gleichzeitig können wir den Anstieg der Islamophobie in der westlichen Welt nicht ignorieren, die sich gegen Flüchtlinge und Einwanderer richtet, insbesondere Muslime, und diese als Bedrohung für die »jüdisch-christliche« Identität Europas darstellt.

Diese Veränderung in den Dynamiken des Rassismus bedeutet, dass Antisemitismus nicht mehr die Hauptform des Rassismus im heutigen Europa ist. Im 21. Jahrhundert wurde Rassismus neu konfiguriert, und ein ausschließliches Augenmerk auf Antisemitismus zu richten, birgt das Risiko, als Vorwand für die Rechtfertigung islamophober und rassistischer Politiken genutzt zu werden. Dies ist besonders offensichtlich in Deutschland, wo die AfD Israel vehement verteidigt und gleichzeitig anti-immigrantische und anti-muslimische Maßnahmen vorantreibt. Während Antisemitismus weiterhin bekämpft werden muss, ist es klar, dass der Kampf gegen ihn zunehmend instrumentalisiert wird.

Angesichts der Tatsache, dass der Gaza-Krieg Teil eines anhaltenden Konflikts ist, wie beeinflusst unsere derzeitige Wahrnehmung der Ereignisse die Erinnerungskultur der Zukunft?

Ein Waffenstillstand wurde genehmigt – eine vorübergehende Ruhepause, aber keineswegs eine dauerhafte oder friedliche Lösung. Dieser völkermörderische Krieg hat Israels globales Image irreparabel beschädigt und es von einer Nation, die einst als Antwort auf den Holocaust galt, in einen unterdrückenden, kolonialen Staat verwandelt, der an das Südafrika der Apartheid erinnert. Heute ist die palästinensische Sache zentral für alle, die sich für die Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit einsetzen, auch wenn diese Sache weder mit der Hamas noch mit der völlig diskreditierten Palästinensischen Autonomiebehörde gleichgesetzt werden kann.

In der deutschen Debatte steht der Holocaust aufgrund der historischen Verantwortung Deutschlands (und Österreichs) im Mittelpunkt der Erinnerungspolitik, während die Nakba – obwohl sie für Palästinenser zentral ist – weitgehend ignoriert wird. Diese Asymmetrie spiegelt sich auch in den Perspektiven wider, da Israelis den Holocaust und Palästinenser die Nakba erinnern, oft ohne die Erfahrungen der anderen Seite einzubeziehen. Wie könnte eine Erinnerungspolitik im deutschsprachigen Raum entwickelt werden, die diese historischen Erfahrungen miteinander verbindet, das Leid beider Seiten sichtbar macht und einen Dialog ermöglicht, ohne die jeweiligen Erfahrungen des Leids infrage zu stellen oder politische Spannungen zu verschärfen?

Deutschland ist für den Holocaust verantwortlich, nicht für die Nakba. Dies erklärt die von Ihnen genannte Asymmetrie und warum in den Nachkriegsjahren das historische Bewusstsein und das kollektive Gedächtnis der BRD um den Holocaust aufgebaut wurden. Heute hat sich jedoch der Kontext verändert. Einerseits, weil Deutschland zu einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft geworden ist, die viele Bürger mit postkolonialen oder sogar palästinensischen Ursprüngen umfasst; andererseits, weil Israel seine unterdrückerischen und genozidalen Politiken mit dem Holocaust und dem Kampf gegen Antisemitismus rechtfertigt. In einer solchen Situation ist diese Asymmetrie nicht mehr akzeptabel.

Es gibt keine Äquivalenz zwischen dem Holocaust und der Nakba, aber beide Tragödien sollten anerkannt und respektiert werden. Dies ist die notwendige Voraussetzung für eine fruchtbare Erinnerungspolitik, die Gleichheit und gegenseitiges Verständnis erfordert. Ein Kampf gegen Antisemitismus, der auf der Leugnung der Nakba und des palästinensischen Leidens basiert, ist sowohl unethisch als auch ineffektiv.

Enzo Traverso lehrt in Geschichtswissenschaften an der Cornell University. Sein neuestes Buch trägt den Titel Revolution: An Intellectual History.


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NEUER BEITRAG30.01.2025, 18:24 Uhr
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FPeregrin

Dt. Imp. an der inneren Nahost-Front Was gerade noch so durch den Bundestag geht - und zwar mit der AfD - nd gestern:

Bundestag verabschiedet Antisemitismusresolution für Hochschulen

Wissenschaftler sehen in dem Entschließungsantrag von CDU, SPD, Grüne und FDP die Wissenschaftsfreiheit gefährdet


Pauline Jäckels 29.01.2025, 18:23 Uhr Lesedauer: 4 Min.

Es ist die Woche der brisanten Bundestagsresolutionen. Im Fokus der Öffentlichkeit stehen vor allem die Migrationsanträge der CDU. Am Mittwoch wurde aber noch ein weiterer umstrittener Entschließungsantrag vom Parlament verabschiedet: Die Bundestagsresolution mit dem sperrigen Titel »Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern« – ein gemeinsames Papier von CDU, SPD, Grünen und FDP.

SPD, Grüne, FDP, CDU und AfD stimmten am Mittwochabend für die Resolution. Das BSW stimmte dagegen, die Gruppe der Linken enthielt sich.

Die Befürworter der Resolution sehen in ihr ein wichtiges Bekenntnis zum Kampf gegen Antisemitismus an Hochschulen. Zahlreiche Wissenschaftler*innen dagegen hatten im Vorfeld versucht, das Vorhaben zu verhindern – denn sie sehen in dem Papier eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit.

»Jüdische und israelische Schülerinnen und Schüler, Studierende, Lehrende und Mitarbeitende sehen sich starken persönlichen und zunehmend auch gewaltsamen Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt«, heißt es in dem Text. Aber auch nicht-jüdische Schülerinnen und Schüler, Studierende, Lehrende und Mitarbeitende, die ihre Solidarität mit dem Staat Israel sowie den Jüdinnen und Juden in Deutschland und weltweit zum Ausdruck bringen, würden vielerorts in Deutschland bedroht.

Die von den beteiligten Parteien genannte Bedrohung führen sie insbesondere auf Organisationen oder Vereine, die mit Islamisten sympathisierten, zurück. Dann heißt es weiter: »An Hochschulen fanden und finden Proteste und Protestcamps statt, in deren Rahmen unter anderem antiisraelische und antisemitische Parolen verbreitet werden.« Der Nährboden dieser Bedrohung sei ein offener und gewalttätiger Antisemitismus »islamistischer, linksextremistischer und rechtsextremistischer Akteure«.

Dann folgen Forderungen konkreter Maßnahmen, mit denen Antisemitismus in Bildungseinrichtungen bekämpft werden soll – hier einige Punkte:


> Mehr Forschungsförderung der Bundesregierung im Bereich Antisemitismusforschung;
> Konsequentes Vorgehen gegen »antisemitisches Verhalten« in Bildungseinrichtungen und Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden;
> Bildungsangebote für Staatsdienstler »für den Erwerb grundlegender Kenntnisse über Antisemitismus, die jüdische Geschichte und Gegenwart sowie die Geschichte des Staates Israel«;
> Fördermittelvergabe solle ausschließlich nach wissenschaftlicher Exzellenz erfolgen. Antisemitismus schließe wissenschaftliche Exzellenz aus;
> Aktivitäten von Gruppierungen, »die israelbezogenen Antisemitismus verbreiten, zu deren Mittel auch Boykottaufrufe, Delegitimierung, Desinformation und Dämonisierung des jüdischen Staates gehören«, sollen unterbunden werden.

Wie in der »Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens«, die im November verabschiedet wurde, soll auch hier die umstrittene IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus als Grundlage dienen – der Bundestag hat diese 2019 als Resolution angenommen. Aus Sicht vieler Antisemitismusforscher*innen ist diese Definition zu vage formuliert und lässt damit Raum offen, auch nicht-antisemitische Kritik an Israel als Antisemitismus auszulegen.

In einer Stellungnahme von Anfang Januar kritisierte die Die Allianz für Kritische und Solidarische Wissenschaft (Krisol) die Resolution. Zwar sei das Antragsziel, antisemitischer Diskriminierung und Gewalt an Schulen und Hochschulen entgegenzutreten, richtig und notwendig. Der Antrag verfehle dieses Ziel aber und bedeutete »höchst problematische Eingriffe in Forschung, Lehre sowie in das schulische und universitäre Leben«.

Zum einen kritisiert die Allianz die isolierte Behandlung von Antisemitimus. Der Text fokussiere sich ausschließlich auf Antisemitismus und Israelfeindlichkeit, während eine vergleichbare Initiative gegen andere Formen von Rassismus fehlten, heißt es in der Stellungnahme. »Dadurch besteht die Gefahr, dass Rassismus und dessen Zusammenhänge mit (und Unterschiede zum) Antisemitismus in Forschung, Lehre und Bildung vernachlässigt werden, insbesondere angesichts gekürzter Fördermittel.«

Zudem bemängeln die Wissenschaftler*innen die Fokussierung auf Israels Geschichte und Gegenwart bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Nahostkonflikts und der Geschichte Palästinas. »Der Antrag droht den Wissensmangel zu verstärken, da er andere Perspektiven – insbesondere zur palästinensischen und arabischen Geschichte – marginalisiert.« Solche Perspektiven seien jedoch essenziell, um die Komplexität des Nahostkonflikts sowie Israels Geschichte und Gegenwart zu verstehen.

Besonders die Passage zur Forschungsförderung wirft für die Kritiker*innen Fragen auf. »Zunächst werde festgehalten, dass die Fördermittel des Bundes nur nach Maßstäben der wissenschaftlichen Exzellenz vergeben werden sollen.« Hier hätte der Antragstext enden müssen, so die Allianz. Jede weitere Ausführung müsse als eine Einschränkung dieser Feststellung verstanden werden.

»Was gilt hier als Ausweis von Antisemitismus? Wird das Projekt auf antisemitische Narrative überprüft oder geht es um eine Überprüfung der beteiligten Person?« In sehr unklarer Sprache öffne der Antragstext eine Büchse der Pandora, an deren Ende eine Gesinnungsprüfung der wissenschaftlichen Forschenden und der Forschung stehen könne.

Der Entschließungsantrag ist lediglich eine Meinungsäußerung des Parlaments und damit nicht rechtlich bindend. Trotzdem könnten Bildungsinstitutionen und Bundesregierung die Forderungen mit Berufung auf die Bundestagsresolution umsetzen.


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NEUER BEITRAG31.01.2025, 19:06 Uhr
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arktika

Dazu von Marc Bebenroth in der jW von heute:

Verkappter Radikalenerlass

Wissenschaftler widersprechen neuer Resolution des Bundestags gegen Israel-Kritik an Schulen und Hochschulen. Nur BSW stimmt dagegen, Linke enthält sich


Im Schatten der Oppositionsmehrheit für eine autoritärere Migrationspolitik verabschiedete der Bundestag zu später Stunde eine neue Antisemitismusresolution. Für die am Donnerstag in Berlin vorgetragene Kritik daran interessierte sich vor Ort nur eine Handvoll Journalisten. Den Behauptungen der Mehrheit der Abgeordneten im Plenum, wonach die Wissenschaftsfreiheit von einer Umsetzung der Forderungen unberührt bliebe, widersprachen Miriam Rürup, Aleida Assmann, Michael Zürn und Ralf Michaels in der Bundespressekonferenz.

■ Die Resolution »Antisemitismus und Israel-Feindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern« sei das jüngste Feigenblatt im staatlichen Kampf gegen Antisemitismus, sagte Rürup, Direktorin des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Am Mittwoch habe sich wiederholt, was zuletzt am 7. November im Plenum geschah. Damals hatte ein Block aus SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und AfD die Resolution für den »Schutz jüdischen Lebens« beschlossen. Erneut seien die Augen vor dem Rechtsruck verschlossen worden, erklärte Rürup. Derartige Symbolpolitik verstelle den Blick auf das, was in der Praxis gegen Diskriminierung, Rassismus und Judenhass getan werden müsse.

Die am Mittwoch nach 22 Uhr mit den Stimmen derselben Fraktionen verabschiedete Resolution fordert verschärfte Maßnahmen gegen Positionen, die der proisraelischen »Staatsräson« der BRD widersprechen. »Keinen Platz« an Schulen und Hochschulen sollen demnach »Antisemitismus und Israel-Feindlichkeit« – der Text verknüpft diese Begriffe wiederholt – haben sowie Unterstützer der gewaltfreien und gegen die völkerrechtliche Besatzung palästinensischer Gebiete gerichteten BDS-Kampagne (»Boycott, Divestment and Sanctions«). Aus den Bildungseinrichtungen vertrieben werden sollen auch alle, die »etwaige Bewegungen« unterstützen.

Mit Nein hatten nur die Abgeordneten der BSW-Gruppe gestimmt. Die der Linkspartei hatten sich enthalten. Die »ganz große Koalition« habe dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen, sagte Andrej Hunko (BSW) im Plenum. Nicole Gohlke (Die Linke) sprach von einem »Schaufensterantrag«. »Wir wollen Lehrkräfte stärken, Sie die Sicherheitskräfte«, rief sie dem Bürgerblock entgegen. Dieser mache »eine Seite unsichtbar«: die Palästinenser.

Er habe sich »immer gegen BDS ausgesprochen«, erklärte Zürn, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin. Dennoch sei er gegen die Resolution, weil sie die Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigen könne. Im Anschluss an die Pressekonferenz erläuterte Zürn im Gespräch mit junge Welt, warum er gegen die palästinasolidarische BDS-Kampagne sei. Er wolle nicht, dass Akademikerkollegen aus Israel, selbst wenn sie der dortigen Regierung kritisch gegenüberstehen, nicht mehr von ihm eingeladen werden sollen. Auf Nachfrage erklärte Zürn, nicht prinzipiell gegen die Idee einer Boykottkampagne zu sein.

Für den Juristen Michaels spricht einiges gegen die neue Resolution. Wie zuvor sei wieder in Hinterzimmern und ohne Anhörung von Fachleuten daran gearbeitet worden. Die Urheber der Resolution wollen Michaels zufolge »nicht eine bestimmte Gruppe, sondern bestimmte Ansichten« schützen und umgekehrt bestimmte Auffassungen unterdrücken. Als Mitglied der Steuerungsgruppe der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus kritisierte Aleida Assmann die Resolution unter anderem dafür, den Schulen und Hochschulen vorschreiben zu wollen, sich an der unwissenschaftlichen IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus zu orientieren. Die Resolution betrachte Antisemitismus als Phänomen völlig isoliert. Assmann sprach sich dafür aus, ihn statt dessen als eine Form von Rassismus, Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu begreifen.


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