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Scharfe Kritik an der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr haben zum gestrigen Weltflüchtlingstag der Europarat sowie mehrere große internationale Menschenrechtsorganisationen geübt. Es könne nicht angehen, dass Privatpersonen, die Seenotrettung auf dem Mittelmeer betrieben, konstant mit "administrativen und juristischen Verfahren schikaniert" würden, erklärt die Menschenrechtsbeauftragte des Europarats. Die NGO Ärzte ohne Grenzen beklagt "erbärmliche neue Tiefpunkte" in der Flüchtlingsabwehr der EU: Die Union sei in eine Art "Unterbietungswettbewerb" hinsichtlich humanitärer Standards eingetreten. Von einem "inakzeptablen Skandal" spricht Amnesty International. Dem Protest schließen sich inzwischen auch Teile der großen christlichen Kirchen an. Hat Papst Franziskus schon vor Jahren Stellung gegen die Abwehrpraktiken der EU bezogen, so erklärt nun auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland in einem neuen Appell: "Die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung muss ein Ende haben. Jetzt!" Hinzu kommen mehrere Strafanzeigen vor internationalen Gerichten.

Tragische Konsequenzen

Scharfe Kritik an der EU hat zum gestrigen Weltflüchtlingstag der Europarat geübt. Dass die Union und ihre Mitgliedstaaten sich im Mittelmeer überwiegend auf die Flüchtlingsabwehr konzentrierten anstatt "auf humanitäre Aspekte und Menschenrechte", habe "tragische Konsequenzen", urteilt die Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, Dunja Mijatović. Seit 2014 - damals wurde vor allem auf Drängen Berlins die italienische Seenotrettungsoperation "Mare Nostrum" beendet (german-foreign-policy.com berichtete1) - seien auf der Flucht vor "Krieg, Verfolgung und Armut Tausende Menschen im Mittelmeer gestorben", stellt Mijatović fest. Tatsächlich kamen dort von 2015 bis 2018 laut Zählung der International Organization for Migration (IOM) mindestens 11.897 Menschen ums Leben. Hinzu kommen in diesem Jahr laut Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR bislang mindestens 559 Todesopfer (Stand: 19. Juni). Trotz des Massensterbens seien die Rettungsoperationen noch reduziert worden, konstatiert Mijatović; die EU kooperiere zudem weiter mit Ländern, die eine desaströse Menschenrechtsbilanz aufwiesen, während NGOs, die "das Vakuum füllen, das durch den Rückzug der Staaten aus der humanitären Hilfe entsteht", mit "administrativen und juristischen Verfahren schikaniert werden".2 Dies müsse sich dringend ändern.

"Ein inakzeptabler Skandal"

Massiven Protest äußern auch große internationale Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen. Vor einem Jahr habe man die Regierungen der EU angefleht, "Menschenleben über die Politik zu stellen", konstatiert Annemarie Loof, Leiterin der Hilfseinsätze von Ärzte ohne Grenzen: "Wir baten um eine menschliche Antwort, um ein Ende der Entmenschlichung verletzlicher Menschen auf See".3 Stattdessen habe "die europäische Antwort erbärmliche neue Tiefpunkte erreicht": Die EU sei mit Blick auf die "humanitäre Krise im Mittelmeer" in eine Art "Unterbietungswettbewerb" eingetreten. Ähnlich äußert sich Amnesty International. "Insbesondere das menschenverachtende wochenlange Geschachere bei der Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen, die aus Libyen nach Europa fliehen, muss aufhören", erklärt die Organisation anlässlich des Weltflüchtlingstags: "Dass die EU keine Menschen mehr aus Seenot rettet und darüber hinaus die Arbeit der Seenotrettungsorganisationen sogar noch blockiert, ist ein inakzeptabler Skandal."4 Die Kritik ist auch insofern bemerkenswert, als Berlin und Brüssel Proteste der zitierten Menschenrechtsorganisationen wegen Verbrechen mit einer hohen Zahl an Todesopfern bei Bedarf regelmäßig nutzen, um politische oder gar militärische Interventionen in anderen Staaten zu legitimieren. Proteste gegen Verbrechen der EU und ihrer Mitgliedstaaten hingegen werden ebenso regelmäßig ignoriert.

Seenotrettung unter Strafe

Scharf angeprangert wird weithin insbesondere das Vorgehen mehrerer EU-Staaten gegen private Seenotretter und gegen andere Unterstützer von Flüchtlingen. Italien prescht unter der Führung von Innenminister Matteo Salvini (Lega) vor, hat seine Häfen für Rettungsschiffe geschlossen und Personen, die Flüchtlinge vor dem Tod auf dem Meer bewahren, vor Gericht stellen lassen. In der vergangenen Woche hat die italienische Regierung zusätzlich ein Dekret auf den Weg gebracht, das Schiffseignern sowie Kapitänen, die "ohne Genehmigung in italienische Hoheitsgewässer eindringen", eine Geldstrafe von bis zu 50.000 Euro androht; Schiffe, die wiederholt gegen das Dekret verstoßen, sollen beschlagnahmt werden.5 In der Bundesrepublik hatte Innenminister Horst Seehofer (CSU) schon im vergangenen Sommer strafrechtliche Schritte gegen Seenotretter verlangt.6 Flüchtlingshelfer sind auch in weiteren EU-Staaten gerichtlich belangt worden, so etwa in Frankreich.7 In Deutschland wiederum sieht ein neues Gesetz vor, die Weitergabe von "Informationen zum konkreten Ablauf einer Abschiebung" unter Strafe zu stellen (german-foreign-policy.com berichtete8). Dies richtet sich ebenfalls gegen Personen und Organisationen, die Flüchtlinge unterstützen.

"Die tödlichste Grenze weltweit"

Das Vorgehen gegen Seenotretter treibt mittlerweile auch die großen christlichen Kirchen in offene Opposition zur EU-Flüchtlingsabwehr. Papst Franziskus spricht sich schon seit Jahren gegen die in der EU üblichen Abwehrpraktiken aus.9 Anfang Juni hat nun auch die Evangelische Kirche in Deutschland Position bezogen. "Das Mittelmeer ist weiterhin die tödlichste Grenze weltweit", heißt es im Appell von Palermo, den der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sowie der Bürgermeister der sizilianischen Stadt Palermo, Leoluca Orlando, am 3. Juni unterzeichnet haben: "Viele sterben in diesen Tagen ungesehen, ohne in den Statistiken erfasst zu sein. Europa steht jetzt vor der Wahl: Wollen wir 2019 helfen oder wegschauen?"10 Bedford-Strohm und Orlando fordern: "Die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung muss ein Ende haben. Jetzt!" Davon abgesehen müsse "Seenotrettung ... auch eine staatliche Aufgabe bleiben": "Deutschland sollte hier ein Zeichen setzen und Schiffe entsenden!" Davon ist die Bundesregierung freilich weit entfernt.

Die EU vor Gericht

Parallel zu den wachsenden Protesten beschäftigt die EU-Flüchtlingsabwehr zunehmend die internationale Justiz. Zu Monatsbeginn haben Menschenrechtsanwälte beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Anzeige wegen des Flüchtlingssterbens im Mittelmeer erstattet (german-foreign-policy.com berichtete11). Bereits zuvor hatten Anwälte, die sich unter dem Namen Global Legal Action Network (GLAN) zusammengeschlossen haben, ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg angestrengt. Gegenstand ist das Vorgehen der griechischen Behörden gegen den dänischen Seenotretter Salam Kamal-Aldeen, der im Herbst 2015 begonnen hatte, von der griechischen Insel Lesbos aus Flüchtlinge zu retten, die hilflos in ihren Booten auf dem Meer trieben. Kamal-Aldeen wurde im Januar 2016 festgenommen und für seine Rettungsaktivitäten in einem Strafverfahren mit zehn Jahren Haft bedroht. GLAN will nun eine Klärung des Falles zugunsten von Kamal-Aldeen vor dem EGMR erreichen, dies auch stellvertretend für andere Seenotretter, die in der EU verfolgt werden, weil sie Flüchtlinge vor dem Tod bewahren.12

Bitte beachten Sie unsere Video-Kolumne zum Thema.

Anmerkungen:
1 S. dazu Die tödlichste Migrationsroute der Welt.
2 Council of Europe member states must assume more responsibility for rescuing migrants at sea and protecting their rights. coe.int 18.06.2019.
3 European policies continue to claim lives on the Mediterranean Sea. msf.org 12.06.2019.
4 Weltflüchtlingstag 2019: Amnesty International fordert mehr Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme in Europa. Pressemitteilung vom 19.06.2019.
5 Italien geht gegen Flüchtlingshelfer vor. tagesschau.de 12.06.2019.
6 Kordula Doerfler: Lage spitzt sich weiter zu - Kritik auch an Horst Seehofer. berliner-zeitung.de 28.06.2018.
7 Rudolf Balmer: Kann Solidarität eine Straftat sein? taz.de 01.06.2018.
8 S. dazu Das Hau-ab-Gesetz.
9 S. dazu Das Leiden des Anderen und Lagerland.
10 Palermo-Appell. ekd.de 03.06.2019.
11 S. dazu Die tödlichste Migrationsroute der Welt.
12 Cain Burdeau: Greece Faces Human Rights Court for Arresting Man Who Rescued Refugees. courthousenews.com 18.04.2019.


 
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  Kommentar zum Artikel von arktika:
Samstag, 29.06.2019 - 16:08

In Deutschland wiederum sieht ein neues Gesetz vor, die Weitergabe von "Informationen zum konkreten Ablauf einer Abschiebung" unter Strafe zu stellen (german-foreign-policy.com berichtete8). Nicht schlecht, damit werden weitere Dimensionen der politischen Verfolgung aufgemacht. Läßt sich bei Erfolg ja noch auf ganz andere Bereiche ausdehnen. Bzw. wird ja auch schon, s. die Verfolgung von ÄrztInnen, die Abtreibungen vornehmen und darüber informieren.