Neonazi-Videos bei YouTube, Profile von Rechtsextremisten bei MySpace - das Internet als unkontrollierbares Medium, in denen Nazis machen können, was sie wollen. Ein beliebtes Thema in den Medien. In unregelmäßigen Abständen leuchten Journalisten die Abgründe des Internets kurz aus. Doch während Videos und Musik von Neonazis unschwer zu erkennen sind, geht es bei Wikipedia deutlich subtiler zu. Das meint zumindest Günter Schuler. Er hat die größte Online-Enzyklopädie ausführlich analysiert und das Buch `Wikipedia inside` vorgelegt. Ein Interview.
Frage: Das Projekt Wikipedia hat sich der Aufklärung verschrieben – ganz im Gegensatz zu Rechtsextremisten. Gibt es dennoch rechtsextreme Wikipedia-Editoren?Günter Schuler: Der Aufklärung verschrieben klingt etwas zu pathetisch. Wenn man sich die Geschichte von Wikipedia anschaut, ist das erst einmal ein Medium, das auf der Technik des kollaborativen Arbeitens aufbaut. Was nun passiert ist: Wikipedia wurde vom eigenen Erfolg überrannt. Und man will alle Informationen bringen und die größte Enzyklopädie schaffen, die es jemals gab. Aber das hat auch einige Nebenwirkungen.
Welche?Unter anderem wird gegenüber rechten Personen sehr unkritisch reagiert – falls denn überhaupt reagiert wird.
Was bedeutet konkret sehr unkritisch?Beispielsweise gab es bei einer Biographie Literaturhinweise auf den Völkischen Beobachter und zu NS-Literatur. Daraufhin haben sich User beschwert. Es passierte dann das, was leider kein Einzelfall ist, sondern eher Methode ist: Einige Administratoren sind über die Kritiker hergefallen. Es hieß dann, Wikipedia werde sich keiner Zensur unterwerfen, und es müssten alle Quellen herangezogen werden. Und so werden auf breiter Front revisionistische Meinungen eingebracht.
Welche Umstände erleichtern es bei Wikipedia rechten Editoren denn noch, an Einfluss zu gewinnen?Auf jeden Fall die inhaltliche Beliebigkeit. Der Wikipedia-Grundsatz „neutral point of view“ wird überhaupt nicht weiter spezifiziert. Damit kann jeder seine Quellen einbringen und sagen, das ist eine bestimmte Meinung. Das hört sich zwar erst einmal sehr gut an – aber in der Praxis können beispielsweise Holocaust-Leugner beim Thema Holocaust eingeführt werden, nur weil es die gibt. In diesen Fällen wird zwar noch eingeschritten, doch bei anderen Themen, die weniger krass sind, ist dies breiter Usus inzwischen.
Das bedeutet, Informationen werden nicht mehr nach Relevanz und Qualität beurteilt, sondern angeführt, einfach weil sie da sind?Genau das ist der springende Punkt.
Inwieweit spielt die Totalitarismustheorie bei Wikipedia eine Rolle?Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Gleichsetzung zwischen Rechts und Links bei Wikipedia weit verbreitet ist. Alles wird über einen Kamm geschert. Die meisten sehen sich dann einfach in der vermeintlich goldenen Mitte. Ich schätze die Community größtenteils sehr unpolitisch ein. Auch eine ganze Reihe von Administratoren halten sich explizit von politischen Themen fern. Man steht dem einerseits hilflos gegenüber, auf der anderen Seite legen viele auch eine falsche Toleranz an den Tag.
Rechtsextremisten argumentieren gerne relativistisch. Vollkommen verschiedene Dinge werden in Beziehung zueinander gesetzt und letztendlich können historische Verbrechen beispielsweise dann nicht mehr eindeutig verurteilt werden. Ist dies bei Wikipedia zu beobachten?Es gibt eine Reihe von Artikeln, die so aufgebaut sind. Aktuelles Beispiel waren die Äußerungen von Eva Herman. Bei Wikipedia war dazu ein Artikel zu finden, der relativierend schreibt, Eva Herman sei auf Grund von Presseberichten entlassen worden. Eine Formulierung, die den Sachverhalt an sich in Frage stellt. Ähnlich könnte man dann schreiben “Laut Historikern und Büchern war Adolf Hitler von 1933 bis 1945 Reichskanzler”. Eine distanzierende und subtile Argumentation wird also benutzt.
Wie gehen rechte Editoren strategisch vor, um ihre Einträge zu verteidigen oder um Themen zu setzen?Zum Teil sehr klug, aber vor allem äußerst beharrlich. Beispielsweise bei Artikeln zum spanischen Bürgerkrieg wird erst einmal die Gleichsetzung von den spanischen Nationalisten mit Faschisten abgewehrt. Das geschieht mit Wortklaubereien. Und bei der Bombardierung von Guernica wird dies dargestellt, als habe es sich um eine reine Kampfhandlung gehandelt. Dann wird es wiederum verglichen mit der Bombardierung von Dresden. Und diese Dinge werden beharrlich vertreten. Man hat da seine liebe Mühe und Not als Autor gegen diese Nebelgranaten anzukommen und zu argumentieren. Das ist sehr mühsam. Und viele Leute scheuen sich das auch. Dadurch ist diese Strategie teilweise von Erfolg gekrönt.
Was müsste bei Wikipedia passieren?Die Leute, die versuchen dagegen zu lenken, die haben es nach meinem Eindruck unheimlich schwer. Und bei Wikipedia ist auch eine gewisse Kritikrenitenz. Das ist ein Stück weit nachzuvollziehen, weil die Macher sehr unter Erfolgsdruck stehen. Doch durch Kritik von außen könnten die Strukturen und Mechanismen bei Wikipedia vielleicht modifiziert werden. So wäre eine Antidiskriminierungs- und Antifaschismusetikette sicherlich wünschenswert.
Rechtsextremisten wollen in Anlehnung an Gramsci den „Kampf um die Köpfe“ führen. Die Strategie, Wikipedia zu entern, erscheint eine geschickte Vorgehensweise. Könnte diese von Erfolg gekrönt sein?Ich sehe da mittelfristig eine Gefahr. Denn Wikipedia ist nach Google im Internet das größte Nachschlagemedium. Es genießt breite Akzeptanz. Nicht zuletzt auch bei Journalisten. Aber auch Schüler und Studenten nutzen Wikipedia sehr viel – und denen fällt es wahrscheinlich noch weniger auf, wenn Einträge eine rechte Schlagseite haben. Und wenn sich Wikipedia nicht modifiziert, dann könnten ganze Themengebiete rechts eingefärbt werden. Es gibt viele Einfallstore dafür: Die erwähnte Totalitarismus-Theorie oder auch biologistische Inhalte versuchen die Rechten so in die Köpfe der Leute zu pflanzen.
Das Interview wurde am 02.11.07 vom NPD-Blog geführt und für www.secarts.org übernommen.
Unter wikipedia-inside.unrast.org gibt es einen Blog zum Buch "Wikipedia Inside - Die Online-Enzyklopädie und ihre Community" von Günter Schuler.