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BERLIN/MOSKAU ( 02.05.2016) - In der Debatte um eine etwaige Einstellung der EU-Russland-Sanktionen werden in Berlin Forderungen nach einer Ausweitung der Maßnahmen auf "Millionen russischer Staatsbürger" laut. Die Sanktionen dürften keinesfalls aufgehoben werden, heißt es in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Internationale Politik". Es gelte stattdessen, sie massiv zu verschärfen und beispielsweise um "Visaverbote für alle russischen Staatsbediensteten" zu ergänzen. Nur so könne man "die russische Mittelklasse" in eine breite "Protestbewegung" zum Sturz der Regierung hineinzwingen. Der Autor des Beitrags hat bereits im vergangenen Jahr behauptet, Russland werde nur dann politische Fortschritte erzielen, "wenn seine Gesetze von außen installiert werden". Während einige Russland-Spezialisten gegen jegliche Linderung der Sanktionen agitieren, erhöht die Bundesregierung die Spannungen zwischen Berlin und Moskau - mit der Mitteilung, man prüfe zur Zeit die Übernahme der Führung eines in Litauen stationierten NATO-Bataillons durch die Bundeswehr. Entgegen anderslautenden Behauptungen der Kanzlerin wäre damit der faktische Bruch der NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 verbunden; das wiederum liefe auf eine neue Eskalation des Konflikts zwischen dem Westen und Russland hinaus.

"Unverzeihlich sanft"

Eine dramatische Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland fordert Wladislaw Inosemzew, Direktor des "Center for Post-Industrial Studies" in Moskau und im vergangenen Jahr als "Berthold Beitz Fellow" am "Robert-Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien" der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) aktiv. Wie Inosemzew in der aktuellen Ausgabe der DGAP-Zeitschrift "Internationale Politik", des führenden Außenpolitik-Fachblattes des deutschen Establishments, behauptet, seien die Russland-Sanktionen der EU "unverzeihlich sanft ..., verglichen mit denen gegenüber dem Iran oder Nordkorea". Dies müsse sich ändern. Weil das Russland-Geschäft der EU in den vergangenen Jahren massiv eingebrochen sei, "könnten die Europäer ohne Angst vor übergroßem wirtschaftlichen Schaden für sie selbst den Druck auf Moskau erhöhen", schreibt Inosemzew. Russland könne Sanktionen, die "ähnlich breit angelegt" seien wie die EU-Strafmaßnahmen gegen Iran oder gar Nordkorea, kaum überstehen: "Vermutlich würde Putin nicht einmal ein Jahr durchhalten. ... Daher plädiere ich für einen konfrontativeren Kurs und dafür, den Druck auf die Führung dramatisch zu erhöhen."1

Sanktionen gegen Millionen

Inosemzew, der gegenwärtig auch als Non-Resident Senior Fellow am Washingtoner "Atlantic Council" tätig ist, präsentiert in der "Internationalen Politik" konkrete Vorschläge für eine Verschärfung der Sanktionen. So sollten die Strafmaßnahmen "erst beendet werden, wenn die Ukraine vollständige Souveränität über die von den Rebellen kontrollierten Gebiete wiedererlangt hat" - eine Forderung, die implizit die Aufkündigung der Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen zur Folge hätte. Inosemzew verlangt zudem, Banken aus den EU-Staaten zu verpflichten, "sich von Portfolio-Investments in Russland zu trennen". Darüber hinaus solle die EU ein Memorandum verabschieden, "wonach die EU-Staaten Jahr für Jahr 10 bis 20 Prozent weniger russisches Gas importieren". Brüssel könne russischen Staatsbürgern untersagen, "innerhalb der EU Unternehmen zu gründen"; es könne ihnen "die Verfügungsgewalt über Bankkonten mit mehr als 10.000 Euro Einlagekapital entziehen" oder beschließen, "dass zum Beispiel Immobilien in russischer Hand bis zum 1. Januar 2018 veräußert werden" müssten. In Betracht zu ziehen seien "Visaverbote für alle russischen Staatsbediensteten". Prinzipiell sollten die Sanktionen "so ausgestaltet sein, dass sie Millionen russischer Staatsbürger treffen". Nur so lasse sich "die russische Mittelklasse" in eine breite "Protestbewegung" zum Sturz der Regierung hineinzwingen.2

"Den zweiten Kalten Krieg gewinnen"

Inosemzew tritt in außenpolitischen Fachkreisen seit einiger Zeit mit offenen Aufrufen zum Sturz der russischen Regierung hervor. Noch 2012 hatte er, zur Lage in Russland befragt, bestätigt: "Die Mehrheit der Bevölkerung ist zufrieden, sie hat noch nie so normal gelebt wie jetzt." "Russland ist im Kern ein freies Land." Berlin solle sich deshalb gegenüber Moskau "auf seine wirtschaftlichen Interessen konzentrieren".3 Im vergangenen Jahr forderte er nun in einer radikalen Abkehr von seinem früheren Plädoyer zur ökonomischen Kooperation, der Westen müsse "die notwendigen Ressourcen mobilisieren, um den zweiten Kalten Krieg zu gewinnen". Als Mittel dazu kämen drakonische Boykottmaßnahmen in Betracht. Ergänzend müsse man Gegnern einer brutalen Eskalationspolitik, die Inosemzew mit der modischen Beleidigung "Putin-Versteher" versah, "mehr Aufmerksamkeit widmen"; es sei "absolut nötig, die finanziellen Interessen" solcher Kräfte "und ihre geschäftlichen Bindungen an Russland" strikt offenzulegen. Jegliche Organisation, die von staatlichen Stellen in Russland oder auch nur von russischen Bürgern unterstützt werde, solle offiziell als "Agent des Aggressors" gebrandmarkt werden. "Russland wird nur ein 'normales' Land werden, wenn seine Gesetze von außen installiert werden", erklärte Inosemzew4 - ein offener Appell an den Westen, sich den russischen Staat gleichsam im Kolonialstil zu unterwerfen.

Bundeswehr nach Litauen

Während Inosemzew und andere Russland-Spezialisten im deutschen Polit-Establishment energisch Stimmung gegen eine Abschwächung oder gar eine Aufhebung der Russland-Sanktionen machen, verschärfen jetzt auch aktuelle deutsche Militarisierungs-Ankündigungen die Spannungen zwischen Berlin und Moskau. Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag bestätigte, prüft die Bundesregierung zur Zeit die Entsendung deutscher Soldaten nach Litauen, wo sie ein NATO-Bataillon führen sollen. Die Maßnahme wäre Teil der Stationierung neuer westlicher Bataillone in Polen und in den baltischen Staaten, wie sie im Februar vom westlichen Kriegsbündnis beschlossen worden ist. Dies würde den militärischen Druck auf Russland erheblich erhöhen. Die Bundeswehr hatte sich bereits führend am Aufbau der NATO-"Speerspitze" in Ost- und Südosteuropa beteiligt5 und das deutsche Personal im Multinationalen Korps Nordost im polnischen Szczecin, das wichtige Führungsfunktionen bei NATO-Manövern und -Operationen in Osteuropa ausübt, deutlich aufgestockt; außerdem hatte sie sich stark an Kriegsübungen in Polen und in den baltischen Staaten beteiligt.6 Sollten deutsche Militärs Führungsfunktionen beim Aufbau eines NATO-Bataillons in Litauen übernehmen, dann hätte Berlin auch weiterhin eine bestimmende Rolle beim Aufbau der gegen Moskau gerichteten westlichen Militärfront in Ost- und Südosteuropa inne.

Das Ende der Grundakte

Käme es zu der Stationierung, dann wäre dies faktisch ein Bruch der NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997. Die Grundakte sieht - in einer wenig präzisen Formulierung - vor, dass die NATO östlich ihres angestammten Bündnisgebiets aus der Zeit des Kalten Kriegs nicht "substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert".7 In Berlin heißt es, man werde den Wortlaut der Grundakte dadurch einhalten, dass die nach Litauen abkommandierten deutschen Soldaten "rotierten", also immer wieder ausgewechselt und nicht "dauerhaft stationiert" würden. Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die NATO-Bataillone, die in sämtlichen baltischen Staaten angesiedelt werden sollen, als Ganze dort eben doch "dauerhaft stationiert" sein werden. Damit versetzte Berlin der ohnehin schon längst brüchig gewordenen NATO-Russland-Grundakte einen womöglich finalen Schlag. Die Folge wäre eine weitere Erosion der Beziehungen zwischen den westlichen Staaten und Moskau; die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation nähme ein weiteres Stück zu.

Scheinbare Widersprüche

Parallel zu der Eskalationspolitik nimmt in mehreren EU-Staaten - auch in Deutschland - der Druck zu, die Sanktionen abzuschwächen oder ganz aufzuheben. Teil II des Artikels auf: german-foreign-policy.com / www.secarts.org.


Anmerkungen:
1,2 Vladislav Inozemtsev: Zeit für eine moralische Entscheidung. In: Internationale Politik Mai/Juni 2016, S. 20-25.
3 Ex-Medwedew-Berater Inosemzew: "Russland können Sie als Demokratie vergessen". www.spiegel.de 23.11.2012.
4 Vladislav L. Inozemtsev: Russia of 2010s: How to Live with It and How to Outlive It. DGAPkompakt Nr. 7, June 2015. S. dazu Sieg im zweiten Kalten Krieg.
5 S. dazu Kriegsführung im 21. Jahrhundert (I), Kriegsführung im 21. Jahrhundert (II) und Botschaft an die Weltöffentlichkeit.
6 Berlin bereit zur Stärkung der Ostflanke. Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.04.2016.
7 Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation. www.nato.int



 
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